12. Die Kaiser von Einundhalbchina

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,,Wie schön, dass du dich entschieden hast, dauerhaft bei uns zu bleiben, Elizabeth."
Herr Karlsen lief mit einem Stück Kreide zur Tafel und begann den Unterricht.

Auch Kalle grinste mich an.
Als er mit seiner Hand über meinen Rücken strich, wusste ich nicht, wie ich am Freitag den Mut gehabt hätte, mich einfach gegen ihn zu stellen.

Aber jetzt gab es ohnehin kein zurück mehr.
Ich wusste nur noch nicht, wo ich anfangen sollte.

Mein Blick wanderte zu Leon, der am anderen Ende der Klasse saß.
Er hatte genau wie Frederik neben ihm ein blaues Auge. Nur das seins schlimmer aussah.

Beide hatten felsenfest behauptet, sie wären zusammengestoßen.
Ich war mir sicher, dass das nicht stimmte.

In der Pause, als Kalle auf der Toilette war, ging Jeremy erneut auf Marianne zu.
Er packte sie von hinten an der Schulter.
Marianne zuckte heftig zusammen.

,,Lass mich in Ruhe Ready, ich lerne doch", sagte sie leise.
Ready schlug ihr Buch mit einer Hand zu und knickte dabei die Seiten um.
,,Den Stoff solltest du längst beherrschen."

Marianne schluckte. Ich sah auf den Block vor mir, als Ready sie wieder an den Haaren packte.

Das hatte ich noch nie gemacht. Aber vielleicht war es ein erster Schritt.
Ich riss eine Ecke des Papiers ab und formte eine Kugel daraus, die ich nach Jeremy warf.

Er drehte sich wütend um.
,,Was ist los?"
,,Lass sie los."

Jeremy beugte sich vor als wäre er schwerhörig. ,,Was willst du von mir?"

Ich schob den Stuhl zurück und stand auf.
,,Ich sagte, lass sie los. Sie wiederholt den Stoff nur, um ihn nicht zu vergessen. Willst du sie etwa dafür bestrafen?"

Jeremy ließ Mariannes Haare los.
,,Stimmt das?"
Marianne nickte zögerlich.

Jeremy wandte sich ab und setzte sich auf seinen Platz.

Marianne warf mir einen dankbaren Blick zu, als ich mich wieder setzte und mich in mein Buch vertiefte.

Das war kein schlechter Anfang.

In der Mittagspause setzte ich mich zu Leon und Frederick, die vor den beiden Mädchen saßen. Ich wusste nicht, was ich mir dabei dachte.
Diese Schüler waren alle ein Jahr älter als ich.

,,Was willst du?", wollte der große Blondschopf wissen, der Frederik war.
Leon war kleiner und hatte hellbraune Haare.

,,Willst du uns ausspionieren, damit du deinem Freund Kallinski alles über uns berichten kannst?", fragte Leon argwöhnisch.

Ich schüttelte den Kopf.
,,Nein. Ich möchte nur mit euch reden."

,,Und warum sollten wir dir zuhören wollen?"

Ein Mädchen mit rötlichen Haaren streckte von hinten die Hand aus. Das war Leni.
,,Sie hat gestern Nana geholfen. Hör ihr zu, Frederik."

Frederik seufzte.
,,Gut, was hast du zu sagen?"
Ich holte tief Luft. Soziales war nie mein Fachbereich gewesen.

,,Ich will, dass Kalle aufhört alle zu kontrollieren."
Frederik biss unbeeindruckt von seinem Brot ab. Leon prustete in seinen Kaffeebecher, verschluckte sich und verkniff sich das Lachen nicht einmal.
,,Na und? Ich will auch vieles", antwortete Frederik.

Er brach ein Stück Brot ab und hielt es Leon hin. ,,Hier probier mal, ist echt lecker."
Leon schlug seine Hand weg.
,,Nein Mann, ich weiß, dass da Gurken drauf sind. Du kriegst mich nicht dazu, die zu essen."

Leni schlug Frederik von hinten.
,,Hör ihr zu!"

Frederik wandte sich entnervt wieder zu mir.
,,Warum sollte ich grade der neuen Freundin von Kalle zuhören?"

,,Ich bin nicht seine Freundin!"
Dieses Gespräch drehte sich im Kreis.
Leon zog die Augenbrauen hoch.
,,Klar. Und ich bin der Kaiser von Ganzchina."
,,Dann bin ich die Kaiserin von Halbchina."
Frederik reichte ihm den Arm und machte ein Gesicht, dass wohl vornehm wirken sollte.
,,Kommen Sie mein Herr. Wenn wir unser Königreich zusammenlegen, dann haben wir Einundhalbchina."
,,Aber ich herrsche."
,,Vergiss es."
Während die beiden mit den Armen herumwedelten und herumblödelten, wandte sich Leni mir zu.

Sie sah mich nachdenklich an. Auch sie wirkte skeptisch.
,,Was meinst du damit, dass du nicht seine Freundin bist? Du sitzt neben ihm, als erstes Mädchen seit zwei Jahren, und wie er dich im Unterricht berührt, sagt doch alles."

Mir war gar nicht bewusst, dass man das so mitbekam.
,,Herr Karlsen hat mich neben ihn gesetzt, nachdem ich mich über ihn beschwert habe, damit wir uns besser verstehen. Ich wollte das nicht."

Zum ersten Mal meldete sich das andere Mädchen zu Wort, das wohl Katrin war.
Sie hatte einen Arm auf den Tisch gestützt und sah mich mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck an.

,,Heißt das, er berührt dich ohne deine Zustimmung?"
Ich nickte.
,,Du weißt, dass du ihn dafür anzeigen kannst?"
Ich nickte wieder.

,,Vorerst reicht es mir, ihn anderweitig loszuwerden."
,,Was willst du machen? Ihn aus der Klasse werfen?", lachte Leon.
,,Oder ihn gleich einen Kopf kürzer machen?", ergänzte Frederik.

Leni schlug ihn wieder.
,,Warum bist du so gewaltätig?", fragte er  sie halb nach hinten gelehnt.

,,Ich höre auf, wenn du Elizabeth ernst nimmst. Sie will doch, soweit ich das verstanden hab, dasselbe wie wir."

,,Du willst Kallinski auch einen Kopf kürzer machen?"

,,Ich meinte mit loswerden eher, dass er nicht mehr die komplette Kontrolle über diese Klasse haben soll."

,,Also nur die halb...aua!"
Leni hielt inzwischen schon ihr Buch in der Hand und zog es Frederik über den Kopf.

,,Du meinst, Kalle soll nicht mehr die Hierarchiespitze in der Klasse darstellen, deren Autorität sich alle unterwerfen müssen?", fragte Katrin mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich nickte.

,,Warum sagst du das nicht gleich?", wollte Frederik wissen.
,,Das meinte ich die ganze Zeit", sagte ich kühl.

,,Und was willst du machen? Ihn fesseln und knebeln und dann zum Direx schleif...auua Leni!"
Er fuhr herum zu dem rothaarigen Mädchen.
,,Alter, weißt du wie das wehtut!?"

,,Behalt dein Alter, du bist älter als ich", sagte die reserviert.

,,Was hast du vor zu tun?", fragte Leon nun.
Ich zuckte die Schultern.
,,Erstmal so viele wie möglich auf unsere Seite ziehen. Und dann eine Chance abwarten."

,,Klingt erstmal gut. Viele hier haben einfach nur Angst vor Kalle und seinen Kumpels. Mit Nana kann ich reden", schlug Leni vor.

,,Ich kann mit den zwei Geschichtefreaks reden. Die finden auch nicht gut, was er macht."
Leon lehnte sich zurück.

,,Ich rede mit Lotta, die hat schon öfters mal Ärger wegen Reinreden und schlechten Noten gehabt. Du kannst mit Hannes reden, Elizabeth. Er kann Kalle nicht leiden."
Ich nickte.

In diesem Moment kam Kalle zu uns.
,,Was macht ihr da? Das sieht mir nicht nach lernen aus. Elizabeth, warum gibst du dich mit solchen Abschaum ab? Was soll aus denen denn mal werden."

Frederik sah ihn von unten an und sagte dann zuckersüß:
,,Die Kaiser von Einundhalbchina."

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