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„Finn? Wenn du mich hören kannst, gib mir irgendein Zeichen", sagt eine Stimme. „Drück' meine Hand oder zucke mit der Wimper. Irgendwas."
Ich frage mich, wer Finn ist und ob er wohl mit der Wimper zucken kann. Ich hoffe es, denn die Stimme klingt besorgt.

•••

„Hey, ich bin es, Bruder", sagt jemand. „Ich hab' mit Kitty um einen Zehner gewettet, dass du bei mir aufwachst, also tu' mir doch den Gefallen und mach' kurz irgendwas."
Ich frage mich, ob Kitty die andere Stimme war und ob sie wohl weiß, dass der Bruder gerade mit billigen Tricks versucht, jemanden aufzuwecken. Hoffentlich wacht derjenige bald auf. Ich bin ganz schön müde.

•••

„Finn", höre ich die Kitty-Stimme erneut. „Die Ärzte sagen, dass du längst wieder wach sein müsstest. Also, wenn du mich hören kannst, bitte wach' auf."
Du liebe Zeit, das ist kaum auszuhalten, denke ich. Ist dieser Finn wirklich so ignorant oder so faul, seine Angehörigen so zu quälen? Genervt öffne ich die Augen, weil man sie so besser rollen kann.

Halbdunkel umgibt mich und ich muss dennoch mehrfach blinzeln, bis meine Augen sich an das ungewohnte Licht gewöhnt haben. Links neben mir sitzt eine zierliche Frau mit braunen Locken und blickt mich mit einer Mischung aus Überraschung und Freude an. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern und ich sehe, wie eine einzelne Träne auf ihre Wange tropft.
„Finn", wispert sie kaum hörbar und ich runzele die Stirn. Kurz rolle ich mit den Augen und dann umfängt mich die Dunkelheit wieder.

•••

„Kitty war ganz schön sauer, als ich ihr den Zehner zugesteckt habe", lacht die Bruder-Stimme. „Alter, sie war vollkommen aus dem Häuschen als du sie gestern plötzlich angeguckt hast. Die Ärzte haben gesagt, das ist ein gutes Zeichen und dass du wieder ganz der Alte wirst."

Interessiert schlage ich die Augen auf und sehe einen jungen Mann, der etwa in meinem Alter ist, an der Stelle sitzen, wo beim letzten Mal die weinende Frau saß. Er sieht mich an und auch seine Augen weiten sich überrascht.
„Yo Finn", strahlt er mich an. „Cool, dass du wieder da bist, Mann." Seine starke Hand drückt meine, das kann ich fühlen.

„Du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt", lacht er unbeholfen und wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Verwirrt blicke ich mich um, doch das Bett, in dem ich liege, ist das Einzige in diesem Raum.
„Wer ist Finn?", frage ich erstickt und huste leicht gegen das Kratzen in meinem Hals.

Der Mann schnappt erschrocken nach Luft und betastet hilflos meinen Arm und meinen Oberkörper.
„Ich.. ich rufe jemanden..", stammelt er und fummelt hektisch neben dem Bett herum. Offenbar befindet sich dort eine Art Notknopf, denn innerhalb von Minuten kommen eine Schwester und ein Arzt ins Zimmer gelaufen.

Der Arzt mittleren Alters zieht eine kleine Taschenlampe aus der Brusttasche seines Kittels und leuchtet abwechselnd in meine Augen. Ich blinzele verstört und sehe die Schwester an, die eine Blutdruckmanschette an meinem Oberarm befestigt und beginnt diese aufzupumpen.

„Können Sie sich erinnern, was passiert ist, Mr. Campbell?", erkundigt sich der Arzt und da niemand reagiert und alle Augen auf mich gerichtet sind, scheint er wohl auch von mir eine Antwort zu erwarten. Doch mein Name ist nicht Campbell. Und auch nicht Finn. Was passiert ist, weiß ich allerdings auch nicht und so schüttele ich zaghaft mit dem Kopf.

Der Arzt nickt verständnisvoll und wendet sich dem dunkelhaarigen Mann an meinem Bett zu, der den Notknopf gedrückt hat.
„Es könnte sich um eine temporäre Amnesie handeln", erklärt der Arzt ruhig. „Immerhin hat er ein starkes Schädel-Hirn-Trauma erlitten und sein Gehirn wird noch einige Zeit benötigen, sich an alles zu erinnern. Sprechen Sie viel miteinander. Erzählen Sie ihm von gemeinsamen Erinnerungen, damit seine eigenen davon angeregt werden."

Der Bruder-Mann nickt ergeben und lächelt mich hoffnungsvoll an. Ich bin müde und schließe meine Augen wieder. Das ist mir alles zu viel.

•••

„Und dann rief Dana immer: ,Finn und Kilian! Wenn ihr nicht sofort eure Cousine wieder losbindet, könnt ihr was erleben!'", erzählt die Bruder-Stimme lachend. Müde öffne ich die Augen und sehe ihn wieder neben mir sitzen. Warum glaubt er noch immer, dass ich dieser Finn bin? Ich bin mir inzwischen sehr sicher, dass ich nicht Finn heiße und ich weiß auch, dass ich keine Cousine habe. Ich habe ja nicht einmal Eltern.

Die Tür öffnet sich und die lockige, kleine Frau mit der Kitty-Stimme kommt herein.
„Hey Kitty", begrüßt sie der Bruder-Mann und geht auf sie zu, um sie fest zu umarmen. Ist er wohl der Kilian aus seiner Geschichte? Ich nenne ihn jetzt einfach Kilian.
„Na ihr beiden?", begrüßt uns Kitty. Ihre Augen werden groß und füllen sich wieder mit Tränen, als sie erkennt, dass ich sie ansehe. „Hey Finn", schnieft sie leise und gleitet an die Bettseite gegenüber von Kilian. „Alles okay?"

Ich nicke zögerlich. Sie sieht nett aus. Nett und besorgt und ich bringe es nicht übers Herz ihr zu sagen, dass ich nicht Finn bin. Eine kurze Inspektion meines Körpers lässt mich ahnen, dass ich wohl einen Verband um meinen Kopf trage und einige Verbände hier und da sind. Allerdings lassen sich beide Arme und Beine bewegen, was mich vermuten lässt, dass ich keine Knochenbrüche habe. Ich wüsste auch nicht, wovon oder weshalb ich überhaupt in diesem Krankenhaus bin und für diesen Finn gehalten werde?

Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass dieser blöde Geldautomat meine Karte einbehalten hat und dass mein unzuverlässiger Mitbewohner einfach-

„Die Ärzte haben gesagt, dass du bald nach Hause kannst", unterbricht Kitty meine noch schwergängigen Gedanken. „Wenn alles gut läuft, schon nächste Woche. Das ist total super, dann können Kilian und ich uns abwechseln, auf dich aufzupassen, bis du wieder fit bist."
Aha, der Bruder heißt wirklich Kilian!, triumphiere ich innerlich.

Stirnrunzelnd sehe ich diese Kitty an und Kilian murmelt: „Er weiß doch nicht mehr so viel."
Kitty nickt entschuldigend und lächelt mich an. „Natürlich", räuspert sie sich und fast erwarte ich, dass sie aufsteht, um einen Knicks zu machen. „Ich bin Katarina Kalligan, deine Cousine, aber jeder nennt mich Kitty und das ist Kilian Campbell, dein Bruder. Du bist Finn Campbell. Wir alle drei sind beste Freunde und passen immer aufeinander auf. Außerdem sind wir Lehrer an der gleichen Schule, aber ab Mittwoch sind Ferien."

Heilige Scheiße!, denke ich und starre die kleine Frau ungläubig an. Ich soll ein Lehrer sein?

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