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Finn hält an einem Raum, in den noch immer einzelne Schüler hineingehen und im Vorbeigehen ein „Guten Morgen, Mr. Campbell" oder auch ein „Schön, dass Sie wieder da sind, Mr. Campbell" murmeln.

„Also", wendet Finn sich an mich. „Zwei Dinge."
Aufmerksam sehe ich ihn an und frage mich, was jetzt wohl für eine Ansage kommt.
„Das hier ist meine Klasse, also werden wir die ersten beiden Stunden vermutlich eine Fragerunde einbauen müssen, denn natürlich sind sie furchtbar neugierig."

Ich nicke verständnisvoll und bewundere wieder einmal, wie umsichtig er in Bezug auf seine Schüler ist. Meine Lehrer von damals hätten meinen Mitschülern und mir vermutlich Strafarbeiten aufgebrummt, wenn wir Fragen zu einem privaten Vorfall gestellt hätten.

„Und das andere", fährt Finn fort. „Halte dich fern von Sandra. Sie ist unfassbar aufdringlich und schmeißt sich an alles ran, was-"
„Keine Sorge", unterbreche ich ihn und Finn sieht mich fragend an. „Kilian hatte mich schon gewarnt."
„Ja, aber da warst du ich und jetzt bist du du und natürlich kannst du machen, was du willst und du hast ja auch gesagt, dass du schwul bist und es geht mich ja auch nichts an, aber sie ist wirklich sehr-"

„Finn", gehe ich wieder dazwischen. „Alles gut. Ich meide sie mit aller Macht, okay?"
Erleichtert fährt er sich einmal durch seine chaotischen Haare und nickt.
„Okay, dann mal los", scheint er sich selbst zu wappnen. „Du kannst dich erst einmal vorn mit hinsetzen und den Rest machen wir spontan."

•••

Die beiden Unterrichtsstunden vergehen tatsächlich wie im Flug. Finns Klasse ist ein elfter Jahrgang und seine Schüler scheinen sichtlich besorgt um ihren Lehrer gewesen zu sein. Ich bekomme im Verlauf des Gesprächs mit, dass es eigentlich sein Englischkurs ist, er aber für alle Schüler, die in den höheren Jahrgangsstufen ja keine Klassenverbände mehr haben, der Tutor und Ansprechpartner ist.

Zu Beginn stellt er mich kurz als seinen Praktikanten vor und die Schüler nehmen diese Information kommentarlos zur Kenntnis. Als er anbietet, dass Fragen gestellt werden können, schnellen fast alle Hände nach oben und die Fragen beginnen zunächst schüchtern, aber man sieht den Jugendlichen an, dass ihre Neugier gestillt werden will.

„Waren Sie schwer verletzt, Mr. Campbell?"
„Können Sie sich daran erinnern, wie man Sie aus dem Zug geholt hat?"
„Haben Sie eine Leiche gesehen?"
„Können Sie sich an den Aufprall erinnern?"

Finn beantwortet alle Fragen wahrheitsgemäß, ohne zu viel Information preiszugeben und als sein Blick auf die Frage, ob er von anderen Opfern weiß, fragend zu mir wandert, schüttele ich kaum merklich mit dem Kopf. Er versteht meine stille Antwort und antwortet schlicht mit einem „Darüber darf ich leider nichts sagen, um die Privatsphäre aller Beteiligten zu schützen."

Nachdem die Fragen über den Vorfall und seinen Zustand allmählich abebben, fragt Finn seinerseits ebenfalls nach besonderen Erlebnissen während der Ferien und einige Schüler berichten von erfolgreichen Fahrprüfungen, einem Urlaub in Europa oder einem neuen Hund in der Familie.

Ohne einmal über das Fach Englisch gesprochen zu haben, sind die Stunden vorüber und die Schüler verabschieden sich höflich von Finn und auch von mir, während sie aus dem Raum strömen.

„Die waren alle sehr nett", stelle ich fest, als wir wieder allein im Raum sind.
„Respektvolles Verhalten gibt einem auch das Gleiche zurück", lächelt Finn. „Ich freue mich, dass du nicht weggelaufen bist."
„Was lässt dich denken, dass ich weglaufen wollte?"
„Nun, schon heute früh, bevor wir ins Auto gestiegen sind, hatte ich Angst, dass du auf dem Absatz kehrtmachst und auf Nimmerwiedersehen verschwindest, Caleb", sagt Finn ehrlich.

Ehe ich darauf etwas erwidern kann, betreten neue Schüler den Raum und Finn wendet sich den Ersten von ihnen zu, um sie zu begrüßen.
„Geografie", flüstert er mir zu und ich nicke verstehend.

Als alle Schüler sich an ihre jeweiligen Plätze gesetzt haben und der Letzte sogar umsichtig die Tür geschlossen hat, begrüßt Finn den Kurs und erklärt: „Das hier ist Mr. Martínez. Er wird bis zu den Sommerferien ein Praktikum hier machen und mich in meinen Stunden unterstützen. Auch wird er seine Einschätzung zu euch abgeben, sie wird also Einfluss auf eure Noten haben."

Ich versuche, ein neutrales Gesicht zu machen, obwohl alles in mir nach einer panischen Reaktion schreit. Ich soll Schüler einschätzen? Himmel, ich kann mich nicht mal selbst einschätzen!

„Caleb?", spricht Finn mich an. „Kommst du?"
„Ich?", frage ich äußerst intelligent, doch zu meiner Erleichterung lacht keiner der Schüler, sondern alle blicken mich erwartungsvoll an.

Langsam erhebe ich mich von meinem Stuhl und wische meine schwitzenden Hände an meiner Hose ab.
„Wir machen jetzt erst einmal eine kleine Wiederholung des Stoffs vor den Ferien, das kannst du gern übernehmen", ermuntert Finn mich und setzt sich ganz selbstverständlich auf den Platz, auf dem ich bislang noch saß.

Unbeholfen lächelnd wende ich mich den Schülern zu und murmele: „Hi, ich bin Caleb... Martínez."
„Etwas lauter, Caleb", wispert Finn mir zu und ich nicke hilflos.
„Hi", wiederhole ich nun etwas lauter. „Ich bin Caleb Martínez. Und ich wüsste gern, ob jemand von euch schon mal was von Geografie gehört hat."

Zuerst starren alle mich verdattert an und dann beginnt ein Junge in der Mitte der Fensterreihe, leise zu kichern.
„Kann Mr. Martínez jetzt immer Unterricht mit uns machen, Mr. Campbell?", fragt er Finn lachend. „Ist doch cool, wenn es mal lustig ist."

Auch die anderen Schüler nicken nun lachend und erst jetzt fällt mir mein kleiner Fehler vor Aufregung auf. Ich spüre, wie meine Wangen wärmer werden und denke still: Das geht ja gut los.

„Findest du mich etwa unlustig, Leon?", meckert Finn gespielt, was Leon augenblicklich seine Hände in einer entschuldigenden Geste heben lässt.

„Du hast auch meine Frage nicht mit Ja beantwortet, Leon", springe ich mit klopfendem Herzen auf den Witzezug auf und nun lachen alle Leon an.
„Ja", kommt es blitzschnell von Leon zurück. „Geografie ist doch das, wo man was über Kreise und Körper lernt, oder?"

Der Junge neben ihm lacht dümmlich auf und stupst ihn in die Seite.
„Das ist Geomatrie, Leon", feixt er und statt dessen Fehler zu korrigieren, lacht Leon nur zurück und sagt: „Danke, Kevin. Hab' ich voll verwechselt."

„Okay, Geografie scheint also bekannt zu sein", beende ich die Witzerunde und atme tief durch. „Wie sieht es denn mit geografischen Zonen aus?"

Viele Arme gehen nach oben und ich beginne, Schüler nach und nach zu Wort zu bitten.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now