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„Caleb", ergreift Finn als Erster das Wort. „Wir... du... ich..."
„Du bist wieder du", entgegne ich verdutzt.
„Und du wieder du", kommt es von ihm. Ohne, dass ich etwas dagegen tun kann, greift er mein Gesicht mit beiden Händen und strahlt mich an. „Ich habe tierische Kopfschmerzen, aber wir haben es tatsächlich geschafft!"

Ich kann kaum in seine blauen Augen schauen, so sehr irritiert mich sein Anblick. Also lächele ich unbeholfen und sage nur: „Ja, eine Aspririn wäre jetzt wohl ganz angebracht."

„Ich hab' welche in meinem Fach in der Schule", schlägt Finn vor. „Wenn es nachher immer noch so schlimm ist, gebe ich eine Runde aus."
„Meinst du denn, ich muss jetzt überhaupt noch mitkommen?", frage ich zögerlich. „Immerhin kannst du den Unterricht jetzt ja wie gewohnt machen und wir müssen dieses Praktikantenspiel nicht mehr spielen."

Der Gedanke daran, dass ich nun nicht vor eine Klasse treten und einen Lehrer mimen muss, erleichtert mich ungemein und am liebsten würde ich wieder nach oben in mein - nein, Finns Gästebett gehen.

„Nichts da, Caleb", meckert Finn. „Wir haben so hart dafür geübt und du kommst auf jeden Fall mit. Es wird dir gefallen, versprochen."
Ehe ich widersprechen kann, hat er mich am Arm gepackt und durch die Küche in die Garage gezogen, wo er ganz selbstverständlich auf der Fahrerseite einsteigt und mir mit einer winkenden Handbewegung zu verstehen gibt, dass ich mich mit dem Einsteigen beeilen soll.

Während der Fahrt sage ich kaum ein Wort zu Finn. Stattdessen blicke ich noch immer vollkommen entgeistert auf meine Hände, die nun wieder wie meine Hände aussehen, oder zu dem großen Mann mit den zersausten Haaren, die bis vor ein paar Minuten noch auf meinem Kopf thronten. Irgendwie fehlen mir seine Haare. Und seine Hände.

Das Gefühl ist merkwürdig und ein wenig so, als würde man einen alt vertrauten Ort besuchen, nachdem man sich schon länger an einen anderen Ort gewöhnt hat. Geht es Finn wohl ebenso?

Ähnlich wie ich sagt er während der Fahrt kein Wort, sondern steuert sein Auto selbstbewusst durch die Straßen und letztlich auf einen Parkplatz an einem großen Gebäude. Als er den Motor ausschaltet, starre ich nach vorn durch die Windschutzscheibe auf ein Schild, das mit ‚Mr. Campbell' beschriftet ist.

„Caleb, ich-", beginnt Finn, doch in diesem Moment wird meine Beifahrertür überraschend aufgerissen und eine strahlende Kitty steht vor mir.

„Da seid ihr ja", ruft sie freudig und zieht mich aus dem Auto, ehe sie mir ganz selbstverständlich um den Hals fällt. Haben wir doch nicht unsere Körper zurück, sondern uns das Ganze nur eingebildet?
Schüchtern erwidere ich ihre Umarmung und schon lässt sie mich los, um auch Finn, der inzwischen ausgestiegen ist, zu drücken. Er sieht noch immer aus wie Finn Campbell und gar nicht mehr wie Caleb Martínez und ich sehe ihm an, dass er diese Umarmung sehr genießt.

„Ich finde es ja so, so toll, dass Caleb hier ein Praktikum macht", plappert Kitty drauf los. „Natürlich habe ich niemandem erzählt, dass ihr was am Laufen habt, aber für euch beide finde ich es einfach toll. Ihr seht euch den ganzen Tag, Caleb kann sehen, was Finn für ein großartiger Lehrer ist und vielleicht möchtest du ja auch in die Richtung gehen und dann könntest du auch hier arbeiten, so wie Kilian und ich und dann wären wir alle hier-"

„Kitty, stop!", ruft Finn und ihr kleiner Mund klappt zu.
„Sorry", nuschelt sie grinsend und ich erkenne, dass es ihr kein bisschen leidtut.
„Lass' Caleb mal atmen", bittet er sie. „Er will es sich einfach  anschauen und dann sehen wir weiter. Vielleicht ist Schule gar nichts für ihn und er möchte viel lieber wieder zurück nach Boston."

Ich stehe nur da und sage nichts, versuche, ein neutrales Gesicht zu machen und mir nicht anmerken zu lassen, dass Finns Worte mir genau den Wink geben, den ich ohnehin schon die ganze Zeit in meinem Hinterkopf spürte.

„Kommst du, Caleb?", wendet er sich mir zu und ich folge ihm und Kitty in das große Gebäude, das bereits emsig von Schülern verschiedenster Altersstufen betreten wird.

Zuerst gehen wir in einen Raum, dessen Schild ihn als Lehrerzimmer identifiziert. Innen befindet sich ein großer Tisch, an dem mehrere Menschen sitzen, einige meine ich noch von der Willkommensparty, die Kitty für Finn veranstaltet hat, zu erkennen.

„Finn", ruft ein Mann mit Halbglatze freudig und Finn grüßt ihn nickend mit einem Lächeln.
„Guten Morgen zusammen", grüßt er die Runde und dreht sich zu mir. Alle Augen schauen auf mich und ich schlucke schwer.
„Das ist Caleb Martínez", stellt Finn mich vor. „Er wird bis zu den Sommerferien ein Praktikum bei uns machen und meinen Unterricht und mich begleiten."

„Herzlich willkommen, Mr. Martínez", begrüßt mich ein großgewachsener Mann in einem Anzug und Brille. „Ich hoffe, Sie werden bei uns viel lernen."
„Caleb, das ist Mr. Rodriguez, der Direktor der Schule", klärt Finn mich auf.
„D-Danke, Sir", stammele ich.
Der autoritär, aber freundlich wirkende Mann lacht und winkt ab.
„Ein Sir ist nicht notwendig, Mr. Martínez. Wenn Sie Fragen haben, sind wir alle gern bereit, Ihnen behilflich zu sein."
Ich lächele unbeholfen und bedanke mich mit einem kurzen Nicken.

„Ich helfe auch gern, wenn Finn mal keine Zeit hat", flötet eine blonde Frau und kommt sogleich auf mich zu. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass es diese aufdringliche Person von der Willkommensparty ist, vor der Kilian mich schon gewarnt hatte. Wie hieß sie doch gleich?
„Ich bin Sandra", hilft sie meiner Erinnerung unbewusst auf die Sprünge und hält mir sogleich ihre Hand entgegen. „Vielleicht möchtest du ja auch mal in der Unterstufe reinschnuppern. Ich unterrichte Bio und Kunst."

Finn neben ihr sieht beschämt und wütend zugleich aus und drängelt sich unverzüglich zwischen uns.
„Das ist nett, Sandra", sagt er schroff. „Aber wir müssen dann auch erst mal los."
Ohne mich anzusehen geht er zur Tür und ich stolpere ihm schon fast hinterher.

Als er die Tür aufreißt, kommt ein atemloser Kilian herein.
„Morgen!", ruft er fröhlich und als er mich erblickt, wird sein Lächeln noch breiter. „Hey Caleb! Cool, dass du hier bist."
„Hallo Kilian", erwidere ich schüchtern und Finn schiebt seinen Bruder sanft zur Seite.
„Pünktlich wie immer, was?", murmelt er ihm scherzhaft zu und bedeutet mir mit einem Kopfnicken, dass ich ihm folgen soll.
„Gut gelaunt wie immer, was?", entgegnet Kilian kichernd, was auch Finn ein Grinsen entlockt, ehe wir zwischen geschäftigen Schülern mit neugierigen Blicken den Flur entlanggehen.

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