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Unter der Dusche versuche ich, einen klaren Kopf zu bekommen. Meine Gedanken prasseln so schnell auf mich ein wie das warme Wasser und ich reibe fest mit meinen Händen über mein Gesicht.

Finn will, dass ich bleibe.
Und ich? Was will ich?
Ich würde gern bleiben.
Aber will ich es, weil sein Leben so verlockend ist? Weil ich mich hier einfach wohl fühle und wirklich schon wie zu Hause?
Ich weiß, dass es mehr als das ist. Es ist nicht nur das Zuhause.
Doch was ist, wenn er es sich anders überlegt?
Bin ich bereit zu riskieren, das alles hier wieder zu verlieren?

Wenig später komme ich mit noch nassen Haaren in einer Jeans und einem einfachen T-Shirt die Treppe nach unten. Neben der Haustür erkenne ich meinen alten Rucksack und darauf liegt meine kleine Kiste.
Wow, denke ich. Finn Campbell macht keine halben Sachen.

Ich blicke mich um, doch kann ihn nirgends entdecken. Ist das jetzt sein Zeichen, dass ich gehen soll?
Zögerlich nehme ich meine Holzkiste in die Hände, fühle ihre raue Oberfläche. Alles in mir schreit danach zu gehen und mich nicht wieder umzudrehen. Finn und sein perfektes Leben hinter mir zu lassen und nur die Erinnerung an diese verrückte und doch schöne Zeit hier mitzunehmen.

Wie in einem Film sehe ich, wie meine Hand die Kiste zurück auf meinen Rucksack legt und meine Beine mich wie ferngesteuert durch das Haus tragen. Ich gehe durch die Küche und das Wohnzimmer, doch Finn ist nirgends zu sehen.

Die Tür zur Terrasse ist angelehnt und draußen entdecke ich Finn, der auf einem der Gartenstühle sitzt und auf seinen gepflegten Rasen blickt, ein Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit in seiner Hand.

Leise gehe ich zur Tür und ziehe sie geräuschlos auf.
„Ich wusste gar nicht, dass du ein Feierabendtrinker bist", gebe ich unverfänglich von mir.

Finns Augen schließen sich kurz und ich kann am Heben und Senken seines Brustkorbs erkennen, dass er tief durchatmet.
„Du musst das nicht tun, Caleb", sagt er müde.

„Trinken?", erwidere ich, obwohl ich genau weiß, dass er das nicht meint. „Nein, ich denke auch nicht, dass das eine gute Idee wäre."

Finn sieht noch immer stur auf den Rasen, sein Kiefer angespannt.
„Ich habe dir deine Sachen neben die Haustür gestellt", redet er langsam weiter. „Ich denke, ich habe nichts vergessen. Und auch, wenn ich dir nichts schulde, habe ich dir fünfhundert Dollar in deine Brieftasche getan."

Langsam lecke ich mir über meine trockenen Lippen.
Der alte Caleb in mir möchte beleidigt sein, ihn anschreien, dass ich sein Scheißgeld nicht will.
Doch der neue Caleb möchte nicht streiten.
Der neue Caleb möchte nicht gehen.
Allerdings wissen weder der neue noch der alte Caleb, wie ich das deutlich machen soll.
„Also war es das jetzt?", höre ich mich mit erstickter Stimme fragen.

Finn nickt, noch immer ohne mich eines Blickes zu würdigen.
„Sieht ganz so aus."

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und nähere mich ihm, bleibe direkt vor ihm stehen.
„Ich will nicht gehen", sage ich mit fester Stimme und blicke zu ihm nach unten.

Finn rollt mit seinen Augen und steht genervt schnaubend auf. Wie oft habe ich dieses Geräusch oder diesen Gesichtsausdruck in den vergangenen Wochen schon gesehen?
„Caleb", sagt er langsam, doch ich spüre, dass er seine Irritation im Zaum halten muss. Finn steht auf, sein ganzer Körper unter Spannung. „Du musst das nicht-"

Und bevor er mir zum wiederholten Male sagen kann, dass ich das nicht tun muss, liegen meine Lippen auf seinen. Meine Hände gleiten in seine stets zersausten Haare und vergraben sich in den dichten Strähnen. Es fühlt sich so unsagbar vertraut und richtig an und erst jetzt gestehe ich mir ein, wie sehr ich das - wie sehr ich ihn - vermisst habe.

Finns Arme schlingen sich um meinen Oberkörper, ziehen mich noch näher an ihn und ein leises, erleichtertes Seufzen von ihm dringt in meinen Mund. Zärtlich streichele ich durch seine Haare, spüre, wie weich sie sich zwischen meinen Fingern anfühlen, während meine Lippen seine sanft liebkosen.

„Ich bleibe", wispere ich an seinem Mund. „Ich will nicht gehen, Finn. Ich will bleiben. Bei dir."

Und in diesem Moment weiß ich, dass ich die Wahrheit sage. Ich bin endlich zu Hause.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now