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Noch immer etwas stutzig folge ich Kitty und Kilian die Straße, in der sich Finn Campbells Haus befindet, entlang. Die anderen Häuser mit ihren sauberen Einfahrten und Vorgärten erinnern mich an einen Bilderbuchvorort aus Hollywoodfilmen.

Mein Zeitgefühl ist etwas durcheinander, aber es scheint ein Wochenendtag zu sein, denn viele Menschen mähen ihren Rasen, waschen Autos oder putzen ihre Fenster. Außerdem fahren Kinder mit Fahrrädern oder Inlineskates umher.

Kitty packt plötzlich meine Hand und zieht mich in eine Seitenstraße, während Kilian uns lachend folgt. Verwirrt laufe ich mit und runzele die Stirn, als sie direkt auf einen Spielplatz zusteuern.
„Was wird das jetzt bitte?", frage ich skeptisch und beobachte, wie Kitty sich auf die unbesetzte der beiden Schaukeln setzt.
„Wir schaukeln", verkündet Kilian und stellt sich kurzerhand hinter seine Cousine auf das schmale Brett, seine Füße jeweils rechts und links von ihrer Hüfte. Sie nehmen Schwung und innerhalb kürzester Zeit schaukeln sie fröhlich vor und zurück.

Einige Kinder, die auf dem Spielplatz umhertollen, feuern sie sogar an und ein kleines Mädchen, etwa sechs Jahre alt, zieht auf einmal an meiner Hand.
„Schaukelst du mit mir so wie die beiden?", fragt sie zu mir nach oben, während sie auf Kitty und Kilian zeigt, und ich schaue die Kleine verdattert an. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt auf einer Schaukel saß.
„Du, ich weiß nicht, ob ich das kann", gebe ich zu und sie macht so ein herzzerreißend flehendes Gesicht, dass ich unweigerlich lachen muss.
„Okay", gebe ich nach. „Aber du musst stehen, denn ich fürchte, dass ich sonst kotzen muss."

Sie schlägt sich lachend die Hand vor den Mund und meint: „Du hast kotzen gesagt."
Grinsend laufe ich ihr nach und stelle verblüfft fest, dass der kleine, dicke Junge, der bis jetzt die zweite Schaukel besetzte, diese freiwillig an uns abtritt. Die Kleine klettert im Eiltempo auf die Schaukel, blickt mich erwartungsvoll an und sobald ich mich gesetzt habe, beginnt sie mit gekonnten Auf- und Abbewegungen, die Pendelbewegung in Gang zu bringen.

Kilian und Kitty neben uns schaukeln bereits erschreckend hoch und Kitty kreischt ausgelassen.
„Du musst deine Beine vor- und zurückbewegen!", ruft das kleine Mädchen mir lachend zu. „Dann holen wir sie ein."
Unbeholfen versuche ich, mich an den Bewegungsablauf zu erinnern und beginne, meine Beine bei jeder Vorwärtsbewegung nach vorn zu schwingen. Innerhalb kurzer Zeit gewinnen wir an Schwung und immer höher geht es.

Ich höre jemanden lachen und stelle verblüfft fest, dass ich das Geräusch erzeuge. Mein Magen kribbelt bei jedem Schwung und ich bin richtig außer Atem. Der Wind zauselt durch meine chaotischen Haare und ich schließe für einen Moment die Augen.

In meinem Kopf bin ich wieder fünf oder sechs Jahre alt und genieße gerade nur den Wind auf meinem Gesicht. Ich höre das Lachen der Kinder und kein Geschrei oder Geschimpfe. Ich weiß, dass dieser Moment nicht lange anhalten wird und genau das macht ihn so kostbar.

„Hey Mister", holt die Stimme des kleinen Mädchens, das mit mir gemeinsam auf der Schaukel war, mich zurück in die Gegenwart und auch zurück in diesen mir fremden Körper. „Ich muss jetzt nach Hause. Aber jetzt weißt du ja wieder, wie es geht."
Ich öffne die Augen gerade noch rechtzeitig, um sie vom Spielplatz laufen zu sehen und drehe meinen Kopf zu Kitty und Kilian. Beide blicken mich amüsiert lächelnd an und ich weiß nicht, was sie von mir erwarten.

Kilian meinte, sie würden meine Erinnerungen wieder herauskitzeln, aber natürlich ist nichts dergleichen geschehen. Wenn der wirkliche Finn Campbell tatsächlich irgendwo in mir schlummern sollte, hat ihn das Schaukeln nicht hervorlocken können. Vielmehr hat dieser kurze Ausflug auf den Spielplatz einige Erinnerungen von Caleb Martínez wachgerüttelt und ich bin plötzlich sehr erschöpft.

„Ich denke, ich möchte wieder nach Hause", sage ich matt. Kitty nickt und kommt auf mich zu, doch ich hebe die Hand.
„Wäre es sehr unhöflich von mir, wenn ich sage, dass ich lieber erst einmal allein wäre?", frage ich zaghaft und sehe Sorge in ihren großen Augen.
„Ist es", eilt Kilian mir zu Hilfe und legt seinen Arm um Kittys schmale Schultern. „Aber ich kann es verstehen. Es kann schon nerven, wenn die ganze Zeit so eine kleine Person um einen herumwuselt."

Kitty stößt ihn unsanft in die Rippen, grinst aber dabei.
„Bist du okay, Finn?", erkundigt sie sich und ich nicke entschlossen.
„Mir geht's gut", erwidere ich. „Ich bin nur erledigt und schätze, ich muss einfach meinen Kopf sortieren."
„Das klingt auf jeden Fall sehr nach dir, Bruder", freut sich Kilian. „Immer alles mit dir selbst auszumachen, war schon immer dein Ding."

„Aber dann bringen wir dich trotzdem nach Hause", legt Kitty fest.
„Das wäre gut", lache ich und blicke mich um. „Ich fürchte, ohne euch fände ich den Weg auch nicht."

Zu Hause lasse ich mich aufs Sofa fallen und höre, wie Kitty oben im Gästezimmer herumkramt.
„Ist das wirklich okay für dich, Finn?", will Kilian wissen und betrachtet mich skeptisch.
„Alter, ich bin nicht behindert", gebe ich sarkastisch zurück und entlocke ihm damit ein Grinsen. „Ich möchte einfach ein bisschen meine Ruhe und wenn ich Hilfe brauche, rufe ich sofort an."

„Versprich es!", kommt es von Kitty, die nun mit einem Koffer hinter sich ins Wohnzimmer kommt.
„Ja", rolle ich mit den Augen und kann mich nicht wehren, als sie mir erneut in die Arme fällt.
„Ich habe hier noch die Informationen zu dem Unglück, die ich für dich gesammelt habe", erklärt sie und reicht mir einige ausgedruckte Seiten. „Wenn du noch mehr recherchieren willst, wovon ich ausgehe, liegt dein Tablet in der Kommode."

„Der Code ist dein Geburstag, du alter Narzisst", ergänzt Kilian lachend und ich bedenke ihn nur mit einem halb-bösen Blick, denn insgeheim bin ich ihm für diese Information überaus dankbar.

„Ich rufe heute Abend trotzdem an", droht Kitty und ich rolle erneut mit den Augen.
„Ja Mama", stöhne ich witzigerweise zeitgleich mit Kilian und Kitty streckt uns beiden die Zunge raus.
„Danke ihr beiden", sage ich lächelnd und sehe ihnen nach, wie sie plappernd das Haus verlassen.

Sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, greife ich mir die Blätter, die Kitty mir gab, um zu sehen, ob ich irgendwelche Neuigkeiten über den Verbleib meines Körpers herausfinden kann.

Lügenleben | ✓Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz