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Kilian blickt Kitty und mich fragend an, als wir in die Küche zurückkommen und Kitty sich sogleich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht.
„Ist bei euch alles okay?", erkundigt er sich und Kitty wirft mir einen Soll-ich-es-erklären?-Blick zu.
Ich seufze leise und murmele: „Ich kann mich an nichts erinnern. Das macht mir ziemlich zu schaffen."

Es ist keine vollkommene Lüge, denn von dem Leben, das dieser Körper geführt hat, bevor ich darinsteckte, weiß ich wirklich nichts und das macht mir in der Tat zu schaffen.

„Außerdem würde ich furchtbar gern einen Kaffee trinken", stöhne ich und blicke sehnsuchtsvoll auf die Tasse in Kittys Hand. Kilian lacht unbeholfen und meint: „Wenn du jetzt allen Ernstes Kaffee trinkst, glaube ich dir sofort, dass du nichts mehr weißt."
Kitty holt wortlos eine weitere Tasse aus dem Schrank und stellt sie unter die Maschine, die ihren Dienst auf Knopfdruck wieder aufnimmt.

„Ich habe Finn versprochen, ihm alles zu erzählen", erklärt Kitty und ich erkenne, dass Kilians Augen sich für einen Moment weiten. Anscheinend gibt es einiges zu erzählen, wie ich seiner Reaktion entnehmen kann.
„Dann nehme ich auch noch einen Kaffee", brummt er. Beide beobachten mich gebannt, als ich die mir angebotene Tasse entgegennehme und vorsichtig einen Schluck des noch heißen Getränks nehme.

„Oh Gott, ist das gut", seufze ich genüsslich und Kilian stupst Kitty mit der Schulter an, sein Blick besorgt.
„Ich muss zugeben, du machst mir ein bisschen Angst, Bruder", lacht er hilflos und macht sich selbst und Kitty ebenfalls noch einen Kaffee.
„Wenn ihr so komisch über meine Vergangenheit schweigt, macht ihr mir auch Angst", kontere ich und Kitty meint: „Nun, es ist ja auch unsere. Oder vielmehr eure. Ich kam erst später dazu."

Ich folge beiden ins Wohnzimmer, das sie in meiner Abwesenheit offenbar aufgeräumt haben, denn nicht nur das ganze Essen von gestern ist verschwunden, auch das Sofa ist wieder auf seine normale Riesengröße zusammengeklappt. Wir setzen uns, Kitty in der Mitte zwischen meinem neuen Bruder und mir, und halten unsere Kaffeetassen zwischen unseren Händen.

„Ich wurde in Doha geboren?", platze ich heraus und Kilian nickt.
„Unser Dad war bei den US Marines", beginnt er seine Erzählung. „Alle achtzehn Monate war er in einem anderen Land stationiert und lernte dabei auch unsere Mom kennen."
Fragend sehe ich ihn an und Kilian fährt dort: „Sie war Französin, sie trafen sich auf einer Party in der amerikanischen Botschaft in Paris und kamen zusammen. Ein halbes Jahr später wurde er nach Finnland versetzt und sie besuchte ihn. Dabei entstand ich."

Kilian grinst verlegen und auch Kitty kichert, als er weiterredet : „Ich bin ein Pariser. Dein Lieblingswitz über mich, weil ich in Paris geboren wurde. Und nein, falls du es wissen möchtest, ich spreche kein Französisch."
Tatsächlich lag mir die Frage auf der Zunge, doch so lächele ich nur schulterzuckend.
„Mom und Dad heirateten kurz nach meiner Geburt und Mom durfte daraufhin mit ihm gehen. Sie bekamen eine kleine Wohnung in Helsinki gestellt, doch dann war es schon wieder Zeit umzuziehen."

„Dieses Mal nach Doha", flötet Kitty und zwinkert mir zu, was ich mit einem unbeholfenen Lächeln quittiere. Finn scheint in seinem Leben schon weiter herumgekommen zu sein, als ich als Caleb jemals in einem Atlas geblättert habe.
„Warum.. warum sprecht ihr von unseren Eltern in der Vergangenheit?", traue ich mich zu fragen und meine Befürchtung keine simple Erklärung zu bekommen, wird durch ihre traurigen Gesichter bestätigt.

„Dad hatte Urlaub", berichtet Kilian. „Zum ersten Mal seit Jahren, da warst du gerade ein Jahr alt. Er und Mom hatten nicht einmal richtige Flitterwochen und so bot seine Schwester an, auf uns aufzupassen, damit er und Mom ihre Flitterwochen nachholen konnten."
„Tante Dana", flüstere ich und Kitty und Kilian nicken zustimmend.
„Flugzeugabsturz?", frage ich erstickt und sehe Tränen in Kittys großen Augen schimmern, als sie den Kopf schüttelt.

„Sie flogen nach Rapanui", lässt Kilian mich wissen und ich runzele die Stirn. Rapa- was? Ich traue mich nicht zu fragen, denn für beide scheint es offensichtlich zu sein, wo dieser Ort sich befindet und ich bemühe mich, ihn mir zu merken, um später im Internet Nachforschungen zu betreiben.
„Mom wollte sich schon immer die Moai ansehen und hatte großes Interesse an Vulkanen. Sie mieteten ein Boot, um zu einem Riff hinauszufahren und zu schnorcheln-"

„Und kamen nie von dort zurück", beendet Kitty den Bericht und wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Es wurde davon ausgegangen, dass ihnen beim Schnorcheln etwas zugestoßen ist. Es gibt dort natürlich Haie und Rochen und-"
„Aber man weiß es nicht", geht Kilian dazwischen. „Fakt ist, dass das Boot zwei Monate später an einer der vorderen Inseln angespült wurde und man sie offiziell für tot und uns zu Vollwaisen erklärte. Noch Kaffee?"

Entschlossen steht er auf und begibt sich mit langen Schritten in die Küche. Kitty zwingt sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und drückt meine Hand.
„Ihr sprecht nie darüber", flüstert sie mir zu. „Ihn nimmt das sehr mit."
Noch immer schockiert über die Informationen, die ich gerade bekommen habe, kann ich nur leicht nicken.

Kilian kommt zurück und mir entgeht nicht, dass er keinen neuen Kaffee in der Hand hält, sich jedoch auf den Sessel neben dem Sofa niederlässt.
„Die Marines sorgen gut für ihre Soldaten und für deren Familien. Finanziell", berichtet Kilian und ich stelle fest, dass er sich bemüht, das Ganze so sachlich und unpersönlich wie möglich zusammenfassen. „Wir blieben bei Dana und sie zog uns wie ihre eigenen Kinder auf. Kitty ist nur ein halbes Jahr jünger als du."

Ich lächele die kleine Frau an, die ich locker drei Jahre jünger als mich selbst eingeschätzt hätte.
„Ich hab mich eben gut gehalten", kichert sie und nimmt mir so die Chance, eine Bemerkung darüber zu machen.
„Und wo ist dein Dad, Kitty?", erkundige ich mich und ihr Gesicht verdunkelt sich augenblicklich.
„Der ging kurz nach dem Unglück", knurrt sie leise. „Es war ihm wohl zu viel mit drei kleinen Kindern zu Hause und Mom hat vor ein paar Jahren durchblicken lassen, dass er sie mehr als einmal betrogen hat."

„Oh", ist alles, was ich dazu sagen kann und dann steht Kilian auch schon auf und klatscht in die Hände.
„So, genug Trübsal geblasen", verkündet er. „Ich weiß, wie wir deine Erinnerungen wieder rauskitzeln."
Fragend schaue ich zu Kitty, die mich anlacht und anscheinend genau zu wissen scheint, was er vorhat.
„Du wirst es lieben", kichert sie. „Zumindest liebtest du es früher immer."
Und ehe ich widersprechen kann, werde ich von beiden gepackt und zur Haustür gezogen.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now