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Tante Danas Haus liegt in derselben Wohngegend wie das Haus von Finn. Zumindest gehe ich davon aus, denn wir sind in die gleiche Richtung zurückgefahren und die Häuser mit ihren Vorgärten und Einfahrten sehen ähnlich aus.

Das Haus ist ähnlich aufgebaut wie das, in dem ich jetzt wohne, nur dass die Möbel und Küche etwas älter sind und das Ganze irgendwie gemütlicher wirken lassen. Wie angekündigt hat Dana mir ein Messer und eine große Zwiebel gereicht, damit ich diese in Würfel schneide und ich habe das merkwürdige Gefühl, dass sie das enorm witzig findet.

Da Caleb in seinem Leben allerdings schon sehr viele Zwiebeln geschnitten hat, kenne ich die besten Tricks, um dabei nicht zu heulen. Kurzerhand mache ich mich also auf die Suche nach einem Glas, fülle dieses mit etwas lauwarmem Leitungswasser und nehme einen großen Schluck. Mit dem Wasser im Mund schneide ich die Zwiebel fachgerecht in kleine Würfel, während mir der verblüffte Blick der Tante natürlich nicht entgeht.

„Hey Dana", höre ich einen gutgelaunten Kilian hinter mir und sehe aus dem Augenwinkel, wie er die ältere Frau umarmt. „Hab den Käse mitgebracht. Heult Finn schon wieder?"
Ich drehe mich leicht zu ihm, schlucke das Wasser herunter, denn die Zwiebel ist nun vollständig zerteilt, und grinse ihn breit an.
„Wer heult?", frage ich herausfordernd und sowohl Kilian als auch Dana lachen verblüfft.

„Du kleiner Fuchs", kichert die Tante und nimmt mir die Zwiebelwürfel ab, ehe sie mich in die Seite knufft. „Deckt schon mal den Tisch, ihr Rabauken."

Ich folge Kilian ins Wohnzimmer, das neben einem Sofa von einem großen Esstisch dominiert wird. Aus einer Vitrine holt er Teller und reicht mir diese, damit ich sie auf dem Tisch verteile.
„Und? Wie war es so ganz allein wieder zu Hause ohne Kittys Geschnatter?", erkundigt er sich und beginnt Besteck zusammenzusuchen.
„Irgendwie seltsam", gebe ich zu. „Aber so hatte ich Zeit zum Nachdenken."
„Nachdenken? Über das, was passiert ist?"

Ich zucke mit den Schultern.
„Über alles. Mein Leben, euch, das Unglück, die Leute, denen das Gleiche passiert ist. Haben die wohl auch Gedächtnislücken?", frage ich mich laut.
„Vielleicht sollten wir versuchen, jemanden zu erreichen, der da mehr Informationen hat?", schlägt Kilian vor. „Es wird vielleicht eine zentrale Stelle geben, die einen Überblick über die Opfer hat."
„Meinst du?"

„Nun, du hast zumindest noch eine Woche Zeit, dich zu erkundigen, ehe du wieder in die Schule musst", kündigt er an und ich lasse vor Schreck fast einen der Teller fallen.
„W-Was?", stammele ich und Kilian lacht.
„Die Ferien gehen nur eineinhalb Wochen", lässt er mich wissen und mir wird ganz schwindelig. „Aber keine Sorge, bis dahin wird deine Neugierde sicher gestillt sein. Wo bleibt eigentlich Kitty?"

Kilian eilt aus dem Wohnzimmer und ich höre ihn die Treppen nach oben poltern.
Neugierde? Das ist gerade mein geringstes Problem. Ich bin ja angeblich Lehrer! Was für einer, das habe ich noch gar nicht herausgefunden, aber wenn ich mich recht an die Aufzeichnungen aus Finns Rucksack erinnere, scheint er seinen Beruf sehr ernst zu nehmen.

„Hey Finn", begrüßt mich Kitty und fällt mir um den Hals. „Ist alles okay bei dir? Du siehst irgendwie besorgt aus."
„Ich.. äh.."
„Er macht sich Gedanken über die anderen Opfer des Zugunglücks", klärt Kilian sie auf und sofort betrachtet sie mich mitleidig. „Und außerdem ist es anscheinend das erste Mal, dass Finn Angst hat, wieder in die Schule zu gehen."

Ich schieße ihm einen grimmigen Blick zu, was mir mit einer herausgestreckten Zunge quittiert wird und Kitty noch besorgter aussehen lässt.
„Du liebst deine Arbeit", erklärt sie euphorisch. „Es war schon immer klar, dass du Lehrer werden willst. Ich glaube ja, Kilian ist nur Lehrer geworden, weil es bei dir so einfach aussah."
„Hey!", protestiert der Bruder, wird jedoch von Kitty und mir ignoriert.

„Ärgert ihr schon wieder Kilian?", mischt sich nun auch Dana ein, die aus der Küche kommt.
„Finn hat Angst, in die Schule zu gehen", weiht Kitty sie ein und nun rolle ich mit den Augen. So dramatisch ist es nun wirklich nicht! Also, eigentlich doch, aber das müssen die drei ja nicht wissen.

„Nun, wenn du morgen ein Bad fliesen müsstest, wärst du wohl auch nervös, oder?", lächelt die Tante Kilian weise an.
„Ich und Handwerksarbeiten?", wehrt dieser ab. „Ich hab zwei linke Hände, das wisst ihr doch."
„Finn muss erst mal wieder seine Erinnerungen zurückgewinnen. Wir können von Glück reden, dass er sprechen und laufen kann und sogar noch weiß, wie man Auto fährt." Beim letzten Satz zwinkert sie mir zu und meine Wangen färben sich unwillkürlich rot. „Also lasst ihn einfach in Ruhe oder füllt seine Lücken."

„Natürlich", seufzt Kitty und drückt sich wieder an mich. „Entschuldige bitte, Finn." Dieses ständige Umarmen in dieser Familie macht mich vollkommen fertig und ich tätschele unbeholfen ihren Rücken.

„Okay", klatscht Kilian in die Hände. „Mathe kannst du, oder?"
Ich runzele die Stirn und Kitty rollt mit den Augen.
„Kilian hofft, dass du seinen Mathematikkurs übernimmst", lässt sie mich wissen. „Sag lieber nein. Du hast deine Gründe, warum du nur noch die Oberstufe unterrichtest."
„Nein, Kilian", sage ich pflichtbewusst in seine Richtung, was alle drei auflachen lässt.
„Du bist eine Spielverderberin, Kitty Kalligan", schimpft Kilian.

„Ihr könnt gleich nach dem Essen weiter darüber debattieren, aber jetzt helft ihr mir bitte", verkündet Dana und winkt uns mit sich in die Küche.
Gemeinsam mit Kitty hole ich kleine Schalen für Salat und Kilian holt den duftenden Nudelauflauf mit zwei riesigen Topfhandschuhen aus dem Ofen.

Ich sage natürlich nichts, als wir gemeinsam am Tisch sitzen, aber das hier riecht um Längen besser als dieses Frikassee und ich hoffe inständig, dass das Rezept für den Nudelauflauf keine Kapern beinhaltet.

„Lasst es euch schmecken, ihr Lieben", verkündet Dana und ich sehe in die strahlenden Gesichter von Finn Campbells Familie. So glücklich wie die drei aussehen, dass wir alle hier zusammensitzen und essen, lässt mich meinen Gedanken von eben revidieren. Für so etwas würde ich sogar Kapern gern essen. Und mit der Hilfe von Kilian und Kitty kann ich vielleicht auch so tun, als wäre ich Mathelehrer, oder?

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now