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Als ich am darauffolgenden Morgen die Augen aufschlage, stelle ich fest, dass ich noch zehn Minuten habe, bis der Wecker klingelt. Gefühlt habe ich kaum geschlafen, weil mein Kopf vor lauter Gedanken nicht stillstehen wollte.

Ich schalte den Wecker aus und gehe ins Badezimmer, um zu duschen. Zwar wäre das nicht notwendig, da ich gestern Abend schon geduscht habe, aber heute ist ein wichtiger Tag, für Finn mehr als für mich, und ich möchte zumindest äußerlich den bestmöglichen Eindruck machen.

„Caleb?", höre ich Finns Stimme, als ich unter dem warmen Wasserstrahl stehe.
„Ich dusche", rufe ich zurück, um mich bemerkbar zu machen.
Ungefragt öffnet sich die Tür und Finn betritt das Badezimmer. Instinktiv drehe ich ihm den Rücken zu und zische: „Was ist denn?"

„Ich bin eingeschlafen", erklärt er und zu meiner Überraschung benutzt er einfach die Toilette, während er weiterredet. „Warum hast du mich nicht geweckt? Ich habe das Gefühl, ich habe einen Wattebausch gegessen, so eklig fühlt sich mein Mund an, weil ich mir die Zähne nicht geputzt habe."
„Du machtest einen recht erschöpften Eindruck", rechtfertige ich mich und spüle das Shampoo aus den Haaren. „Hast du kein eigenes Bad?"

Als ich die gläserne Tür der Duschkabine aufziehe, sieht Finn mich lange an.
Was soll das jetzt?, denke ich genervt, sage jedoch nichts, sondern greife nach dem Handtuch, welches über dem Handtuchwärmer hängt.
„Ich..", fängt er an und wendet seinen Blick ab. Die Haare - meine Haare - stehen zu allen Seiten von seinem Kopf ab.
„Wie geht's dir?", will er wissen. „Nervös?"
„Bis eben ging es noch, aber danke, dass du mich daran erinnert hast", knurre ich und beginne, mich abzutrocknen.

„Ich mach' dir einen Kaffee", bietet er an und lächelt mich an, wobei das Lächeln seine Augen nicht erreicht. „Und ich suche dir Klamotten raus."
„Das kriege ich auch allein hin", seufze ich, doch Finn hat das Badezimmer schon eilig verlassen.

Als ich wenig später abgetrocknet ins Gästezimmer komme, liegen auf dem Bett neben Boxershorts und Socken eine dunkelblaue Chinohose und ein weißes, gebügeltes Hemd für mich bereit. Missmutig ziehe ich die Sachen an und gehe nach unten. Vor dem großen Spiegel im Eingangsbereich stocke ich kurz und betrachte den Mann, der mir dort entgegenblickt.
Finn Campbell sieht wirklich gut aus.

„Perfekt", lächelt mich der eigentliche Besitzer dieses Körpers an, der mir eine heiße Tasse Kaffee entgegenhält. Er selbst trägt noch immer die Sachen von gestern und als ich ihn fragend mustere, heben sich seine Augenbrauen.
„Ich beeile mich", verkündet er und rauscht an mir vorbei die Treppe nach oben.

Unterdessen schlendere ich in die Küche und finde auf dem Küchentisch neben dem schwarzen Rucksack, den Finn auch schon bei seiner Zugfahrt dabeihatte, einige Seiten. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass es sich um ausgedruckte E-Mails zwischen Finn und dem Direktor der Schule handelt.

Von: f.campbell@providence-kennedy-schools.com
An: a.rodriguez@providence-kennedy-schools.com
Betreff: Praktikum

Lieber Mr. Rodriguez,

ein guter Freund von mir, sein Name ist Caleb Martínez, würde gern für den Zeitraum bis zu den Sommerferien sein Referendariat an unserer Schule absolvieren.
Da ich nach meiner Abwesenheit noch nicht wieder vollständig genesen bin, wollte ich fragen, ob die Möglichkeit besteht, dass er meinen Unterricht und mich begleitet und gegebenenfalls auch zum Teil übernimmt. Dies wäre für alle Beteiligten ein großer Gewinn.

Mit freundlichen Grüßen,

Finn Campbell

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Von: a.rodriguez@providence-kennedy-schools.com
An: f.campbell@providence-kennedy-schools.com
Betreff: AW: Praktikum

Hallo Finn,

ich freue mich, dass Sie wieder fit sind und bereit, den Unterricht wieder aufzunehmen. Gern darf Mr. Martínez sein Praktikum bei uns absolvieren, hat er schon eine Schule, an der er anschließend unterrichten möchte? Wir haben ja noch die ein oder andere Vakanz.

Viele Grüße,
Allan

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Von: f.campbell@providence-kennedy-schools.com
An: a.rodriguez@providence-kennedy-schools.com
Betreff: AW: AW: Praktikum

Lieber Mr. Rodriguez,

vielen Dank!

Was Mr. Martínez nach Abschluss des Praktikums plant, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Ich könnte mir vorstellen, dass er anschließend zunächst wieder in seine Heimatstadt Boston zurückkehren wird.

Viele Grüße und bis Montag,
Finn Campbell

Ich beiße mir auf die Unterlippe und lege die Blätter zurück auf den Tisch. Zumindest scheint Finn noch daran zu glauben, dass wir es schaffen, bis zu den Sommerferien wieder zurückzutauschen.

„So, fertig!", sagt er atemlos hinter mir und ich drehe mich abrupt um. Finn, der meinen Körper heute in ein schwarzes Hemd und eine blaue Jeans gesteckt hat, erkennt die Blätter auf dem Tisch und zeigt lächelnd darauf. „Das mit dem Praktikum habe ich geklärt, hast du gesehen?"
„Ja", entgegne ich. „Das ist toll."
„Ist alles okay, Caleb?", erkundigt sich Finn und ich sehe hektisch auf die Uhr am Kühlschrank.
„Müssen wir nicht los?", lenke ich ab und er schaut ebenfalls schockiert auf die Uhr.
„Oh Gott, ja!", ruft er und rauscht aus der Küche.

Ich folge ihm eilig und schlüpfe in die teuren Sneaker, die er mir netterweise schon bereitgestellt hat. Finn läuft gehetzt hin und her, während ich mir die Schuhe binde und plötzlich steht er vor mir und faselt: „Soll ich fahren? Oder du? Eigentlich möchte ich dich nicht fahren lassen, aber-"

Entnervt beuge ich mich mit einem Ruck nach oben, als unsere Köpfe vollkommen unerwartet aneinanderprallen, weil Finn nicht mit meiner schnellen Aufwärtsbewegung rechnet.
„Ahh!", schreien wir beide auf und mir wird für einen kleinen Moment schwarz vor Augen, so dass ich sie fest zusammenkneife und hoffe, dass der Schmerz nachlässt.

Großartig, denke ich. Jetzt starte ich meinen ersten Tag als Lehrer auch noch wie das letzte Einhorn mit einer gehörigen Beule an meinem Kopf.

Auch Finn stöhnt schmerzhaft vor mir und als ich meine Augen öffne, sehe ich seine wuscheligen Haare, das weiße Hemd und seine blauen Augen, die mich verblüfft mustern.

Überrascht blicke ich an mir herunter, erkenne die Sachen, die ich eben noch mir gegenüber sah und als ich Finn wieder ansehe, ist mir klar: wir haben gerade unsere Körper zurückgetauscht.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now