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Es ist dunkel und ich liege allein in einem Bett.
Das war der mit Abstand verwirrendste Traum, den ich je hatte. Ich krame kurz in meinen Erinnerungen und stelle fest, dass alles wie vorher ist.

Mein Name ist Caleb Martínez, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und wurde in Boston geboren. Meine Bankkarte wurde gestern vom Geldautomaten einbehalten und mein Mitbewohner hat einfach den letzten Anteil meiner Miete verprasst, so dass der Vermieter uns kurzerhand vor die Tür gesetzt hat. Ich wollte mit dem Zug nach-

Moment, unterbreche ich meine eigenen Gedanken. Wenn ich gerade keine Wohnung und somit auch kein Bett habe - wo zur Hölle bin ich dann?
Ich taste vorsichtig mit meinen Händen herum und fühle, dass ich offenbar wirklich in einem Krankenhausbett liege. Mir muss unterwegs irgendetwas zugestoßen sein.

Langsam setze ich mich auf und schlage die Bettdecke zurück. Es ist zu dunkel, als dass ich irgendetwas erkennen könnte - meine Zehen oder andere Dinge an mir selbst - und so setze ich meine Füße neben mir auf dem Boden auf. Wieder fühle ich kühles, glattes Linoleum und mir wird etwas schwindelig bei dem Gedanken an meinen Traum.

Ich muss nur zu der kleinen Tür dort drüben gelangen, von der ich weiß, dass dahinter ein Badezimmer ist. Meine Knie zittern leicht, als ich mich der Tür Schritt für Schritt nähere, meine Arme leicht ausgestreckt, für den Fall dass ich im Dunkeln irgendwelche Hindernisse übersehe.

Die Klinke der kleinen Tür ist noch kühler als das Linoleum und etwas rutschig, was vermutlich daran liegt, dass meine Hände leicht schwitzen. Blind fühle ich neben der Tür nach einem Lichtschalter und kneife die Augen zusammen, als die plötzliche Helligkeit mich blendet.

Mit geschlossenen Augen taste ich mich in den kleinen Raum und halte mich am Rand des Waschbeckens fest, mein Blick stur nach unten gerichtet.
Das ist sowas von lächerlich, verspotte ich mich selbst in meinem Kopf. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass mein Herz schnell und hektisch in meiner Brust pocht und meine Atmung schneller als gewohnt geht.

Entschlossen öffne ich die Augen und blicke nach oben in den Spiegel über dem Waschbecken.

Fuck! Das bin nicht ich.

Der Typ im Spiegel ist auch dunkelhaarig, aber seine Haare sind eher dunkelbraun und irgendwie wuschelig. Meine sind normalerweise schwarz und glatt. Viel krasser ist, dass seine Augen blau sind. So richtig blau. Ich habe braune Augen. Schokobraun. Das da ist nicht mal annähernd braun.

Ich drehe meinen - oder seinen - Kopf langsam von rechts nach links und wieder zurück. Er hat einen leichten Dreitagebart und einen hübschen Mund. Ich muss zugeben, er sieht verdammt gut aus.

„Hallo Finn", sage ich zum Spiegelbild und beobachte, wie sein Mund sich mit meinen Worten bewegt. Als ich meine rechte Hand hebe, hebt sich seine mir gegenüberliegende ebenso und imitiert meine Bewegungen eins zu eins. Meine - oder seine - Hand streicht vorsichtig über das stoppelige Kinn und ich kann die kratzigen Barthaare fühlen.
Ich bin er. Er ist ich. Aber - warum?

Wo ist mein Körper? Wo ist der echte Finn? Ist der echte Finn in meinem echten Körper? Würde er mich dann nicht finden? Drehe ich langsam durch?

Ich zucke zusammen, als ich vernehme, dass die Zimmertür geöffnet wird und kurz darauf jemand ruft: „Mr. Campbell?"
Campbell? Oh richtig, das bin ja jetzt ich.
„Hier drinnen", rufe ich zurück und sehe einen untersetzten Pfleger im Türrahmen des Badezimmers auftauchen.
„Hey", macht er begeistert. „Sie sind ja auf. Und? Hat es geklappt mit dem Wasserlassen? Brauchen Sie Hilfe?"

Erschrocken schüttele ich den Kopf und stammele: „N-Nein, alles okay."
Irgendwie könnte ich die Berührung eines anderen Menschen gerade nicht ertragen. Dieser Körper gehört mir nicht mal. Ich bin nicht sicher, wie dieser Finn es fände, wenn ich dem Pfleger erlaubte, mir - oder ihm - beim Pinkeln zu helfen.

„Wollen Sie sich trotzdem wieder hinlegen?", schlägt der nette Pfleger vor. „Ich soll einmal kurz Ihren Blutdruck checken, nachdem Sie heute Nachmittag einen Abgang gemacht haben."
„Natürlich", murmele ich und schlurfe langsam zurück zum Bett. „Es war wohl alles etwas viel."
„Ginge vermutlich jedem so, der vier Tage im Koma lag", plappert der Nachtpfleger fröhlich, während er mich wie selbstverständlich verfolgt und mir die Bettdecke aufhält, damit ich darunterkrabbeln kann.

„Vier Tage?", frage ich und er nickt, seine Hände nun professionell mit der Blutdruckmanschette am Werk.
„Sie hatten noch Glück", plaudert er weiter, das Gerät weiterhin in seinem prüfenden Blick. „Andere sind nicht so gut davongekommen."
„Davongekommen?"

Die Augen des Mannes weiten sich schuldbewusst und er senkt das kleine Pumpsäckchen in seiner Hand.
„Sie wissen nicht mehr, was passiert ist, oder?", erkundigt er sich tonlos und ich schüttele nur meinen Kopf, meine Lippen plötzlich staubtrocken.

Er scheint sich zu fangen und pumpt die Manschette vollständig auf, bevor er die Luft langsam entlässt und die Anzeige beobachtet.
„Ich denke, es ist besser, jemand klärt Sie morgen früh über alles auf, Mr. Campbell", will er ausweichen und reißt die Manschette laut von meinem Arm. „Sonst rasen Ihre Werte gleich an die Decke."

Ich packe sein Handgelenk und blicke ihn eindringlich an.
„Bitte", flehe ich. „Sagen Sie mir, was geschehen ist."
„Mr. Campbell", seufzt er. „Ich bin nicht in der Position zu-"
„Hey", unterbreche ich ihn. „Könnten Sie schlafen, wenn Sie plötzlich im Krankenhaus aufwachen und keinerlei Erinnerung daran hätten, wie Sie dorthin gekommen sind? Wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie gerade aus einem viertägigen Koma erwacht sind?"

Kurz erwäge ich noch hinzuzufügen, dass ich auch in einem mir vollkommen fremden Körper erwacht bin, aber irgendwie befürchte ich, dass mir diese Information entweder nicht geglaubt oder aber als psychotische Störung diagnostiziert wird und so verschweige ich diesen Teil fürs Erste.

„Okay", flüstert der Pfleger und blickt sich allen Ernstes um, ob uns nicht jemand hört. „Es gab ein schweres Zugunglück und Sie waren eines der Opfer."

Lügenleben | ✓حيث تعيش القصص. اكتشف الآن