gιzᥒᥲᥕzdᥒᥙιᥱᥕz

578 114 4
                                    

Wie selbstverständlich geht Kilian ins Wohnzimmer und lässt sich aufs Sofa fallen. Ich stehe unbeholfen herum und Finn im Calebkörper schaut mich mit großen Augen an, als wollte er mir etwas sagen.
Ach ja, ich bin ja Finn!
„Möchtest du was trinken, Kilian?", frage ich und der Bruder nickt gleichgültig.
„Gern einen Kaffee", bekomme ich als Antwort.

In der Küche bereite ich einen weiteren Kaffee zu und schaue erneut in die kleine Holzkiste, die ich neben der Maschine abstelle. Soweit ich sehe, ist noch alles drin. Kinokarten, Fahrchips vom Jahrmarkt und ein paar vergilbte Fotos aus einem schlechten Fotoautomaten mit-

„Bist du eingeschlafen, Bruder?", ruft Kilian lachend und ich haste mit seiner Kaffeetasse ins Wohnzimmer. Grinsend nimmt er das Getränk entgegen und mir bleibt nur der Platz übrig, auf dem vorher noch Finn saß. Jetzt darf ich wohl ekligen Fencheltee trinken, wird es mir bewusst. Auch mein Körper sieht nicht besonders glücklich mit seiner ihm nun zugewiesenen Tasse aus.

„Und?", fragt Kilian. „Hat es euch die Sprache verschlagen oder störe ich euch gerade bei.. naja.. Sachen?"
Finn schießt mir wieder einen Blick zu und ich schaue zurück mit der Botschaft: was soll ich denn sagen?

Als ich nichts antworte, ergreift Finn in meinem Körper das Wort: „Finn und ich haben uns kürzlich erst kennengelernt bei.. dem Unglück."
Kilian reißt überrascht die Augen auf, ebenso wie ich.
„Du warst auch in dem Zug?"
Finn nickt und fährt fort: „Wir kamen ins Gespräch, kurz bevor es geschah und.. Finn hat mich ausfindig machen können."

Wieder blickt er mich eindringlich an und ich zwinge mir ein Lächeln auf, als Kilian sich mir zuwendet.
„Deshalb warst du so erpicht darauf, etwas über die Opfer zu erfahren, Alter", grinst er. „Du hast dich in Caleb hier verschossen. Wenigstens ist er mal nicht so ein alter Sack wie die, die du sonst immer so abschleppst."
Mit großen Augen wende ich mich meinem Körper zu, dessen Wangen sich leicht röten, während er den Blick abwendet.

„Ja", entgegne ich steif. „Schätze, ich hab doch mal Geschmack bewiesen."
„Und jetzt bin ich in euer Date geplatzt?", fällt es Kilian auf. „Oh Mann, erzähl' das bitte nicht Kitty. Ich lass' euch zwei mal alleine und dann könnt ihr.. naja.. Dinge tun oder lassen oder.."
Finn lacht verlegen und winkt ab.
„Beruhige dich, Kilian", redet er dem Bruder zu. „Im Gegensatz zu dir petzt hier niemand bei Kitty."

Kilian reißt verblüfft die Augen auf und sieht von Finn zu mir. Auch Finn scheint sein Ausrutscher nun bewusst zu werden, denn sein Mund öffnet und schließt sich erschrocken.
„Du hast ihm erzählt, ich petze bei Kitty?", werde ich nun angeblafft. Schnell stehe ich auf und lege Kilian beruhigend den Arm um die Schultern.
„Vielleicht überzeugst du mich dieses Mal vom Gegenteil, Alter?", schlage ich ihm vor und geleite ihn unterschwellig zur Tür. „Einfach mal die Klappe halten, Kilian."

„Das war ein Mal", meckert er und ruft es mehr in Finns Richtung, als dass er sich vor mir rechtzufertigen scheint.
„Bis bald, Kilian", komplimentiere ich ihn nach draußen und schließe die Haustür.

Erleichtert lehne ich mich dagegen und blicke in meine braunen Augen.
„Danke", sagt Finn in meinem Körper und ich runzele fragend die Stirn.
„Wofür?"
„Dafür, dass du ihn in dem Glauben gelassen hast, alles wäre normal. Dafür, dass du nicht abgehauen bist."

„Hätte auch komisch ausgesehen, wenn ich abgehauen wäre und dir als einem Wildfremden das Haus überlasse", witzele ich.
Müde fährt Finn sich durch die wuscheligen Haare. „Können wir nochmal von vorn anfangen?", bittet er mich. „Ohne Vorwürfe und Ankeifen?"
Beschwichtigend hebe ich sowohl die Hände als auch die Augenbrauen.
„Wenn du nicht keifst, keife ich auch nicht."

Und so setzen Finn in meinem Körper und ich in seinem uns erneut aufs Sofa im Wohnzimmer und er berichtet mir von seinem Erwachen.

Wie ich lag er im Koma und erwachte vor etwa drei Tagen. Anders als ich war er zu Beginn ganz allein und wurde von den Krankenhausangestellten immer mit John angesprochen, da er sich an nichts erinnern konnte. Er wusste zwar, dass sein Name nicht John war, aber auch nicht wie er wirklich hieß.

Erst gestern Abend, als ein Polizist den Rucksack im Krankenhaus vorbeibrachte, hatte er augenscheinlich eine Identität angenommen. Ein Kind hatte den Rucksack offenbar vor dem Haus, aus dem ich vor diesem ganzen Schlamassel geflogen war, gefunden und bei der Polizei abgegeben, welche noch Informationen über die nicht identifizierten Opfer des Zugunglücks hatte.

„Als ich auf den Ausweis schaute, wunderte ich mich, denn ich wusste zwar nicht meinen Namen, aber irgendwie war mir bewusst, dass das auf dem Bild auch nicht ich bin", berichtet Finn. „Als ich dann endlich aufstehen und in den Spiegel schauen durfte, überrollte mich die Erinnerung schlagartig. Ich sah dich im Spiegel, aber auf einmal wusste ich, dass ich eigentlich blaue Augen habe und dass ich Finn heiße und einen Bruder habe. Natürlich kann man das niemandem erzählen, die sperren einen ja direkt weg."

Ich nicke verständnisvoll und höre seiner Erzählung weiter zu. Er entließ sich - also meinen Körper - auf eigene Verantwortung und machte sich sofort mit einem Taxi auf den Weg nach Providence.

„Wie hast du den Fahrer bezahlt?", frage ich verdattert. Ich weiß, dass Caleb Martínez nicht einen Cent bei sich trug, als das Unglück geschah.
Finn grinst mich an und sagt selbstsicher: „Du magst zwar keine Kohle dabeigehabt haben, mein Lieber. Aber ich habe sämtliche Passwörter im Kopf und konnte den Taxifahrer überzeugen, ihn per PayPal zu bezahlen."

„Wow", mache ich beeindruckt. „Und der Code von meinem Handy? Meins hat nicht so eine coole Gesichtserkennung wie deins."
Skeptisch sieht er mich an und meint: „Ich durfte das Telefon des Fahrers benutzen und habe es mit deinem gar nicht erst versucht. Ich fand es irgendwie nicht richtig, in deiner Privatsphäre herumzuschnüffeln. Aber gut, dass du weißt, dass mein Telefon sich über die Gesichtserkennung entsperrt."

Verlegen senke ich den Blick.
„Ich wollte nicht-", beginne ich, doch unterbreche mich selbst. Es wäre gelogen, Finn zu sagen, dass ich nicht in seinen Sachen herumschnüffeln wollte, denn genau das habe ich getan.

Kurz bevor er hier auftauchte, hatte ich sogar für mich beschlossen, sein Leben als meins zu beanspruchen und mich als seine Person auszugeben. Ich habe seinem Vielleicht-Freund eine Abfuhr erteilt und natürlich habe ich in seinen Sachen herumgeschnüffelt.

„Wie wäre es, wenn du mir nun deine Seite erzählst, Caleb?", bittet Finn mich und seitdem ich erwacht bin, bin ich zum ersten Mal wieder vollkommen ehrlich zu jemandem, indem ich ihm alles erzähle.

Lügenleben | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt