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Kitty wuselt nervös von einer Ecke des Krankenzimmers zur anderen. Sie sortiert Formulare auf dem kleinen Tisch und blickt immer wieder hektisch auf die Uhr.
„Hast du noch Termine?", frage ich sie und ernte einen bösen Blick von ihr. Richtig böse sieht sie damit nur leider nicht aus, dafür ist sie zu klein und ihre lustigen Locken, die heute wieder frei um ihren Kopf herumtanzen, lassen sie eher wie eine brünette Prinzessin Lillifee wirken.

„Ich würde einfach gern nach Hause fahren", meckert die Cousine mich an. „Und wenn dieser Arzt endlich mal zum Abschlussgespräch erscheinen würde, könnten wir das auch."
Sie stockt und sieht mich von oben bis unten an. Ich sitze noch immer auf meinem Krankenhausbett, meine - oder vielmehr Finn Campbells - langen Zehen auf dem kühlen Linoleumboden. Die Zehen sind lustig. Gestern habe ich bestimmt eine halbe Stunde damit verbracht, mit ihnen zu wackeln.

„Vielleicht ziehst du dich auch mal an, Finn", motzt Kitty. Sie legt eine schwarze Sporttasche neben mir auf dem Bett ab und zeigt demonstrativ darauf. „Ich hab' dir frische Sachen mitgebracht. Los, los!"
Bedächtig erhebe ich mich und grinse sie an.
„Bist du immer so hektisch?", frage ich und sie stemmt ihre Hände in ihre Hüften.
„Normalerweise muss ich nur Kilian seinen Arsch hinterhertragen", schimpft sie. „Wenn du jetzt auch noch so anfängst, drehe ich durch!"

Lachend wuschele ich durch ihre Locken und ihr Blick wird weicher.
„Ich mach' ja schon", sage ich sanft und sie drückt ihren kleinen Körper unerwartet an mich. Sie geht mit gerade mal bis zur Brust und fühlt sich sehr zerbrechlich an.
„Schön, dass du wieder da bist, Finn", wispert sie und ich streichele unbeholfen über ihren Rücken.
„Jetzt aber nicht wieder heulen", antworte ich und bin mir für einen Moment unsicher, ob ich mit diesem Satz sie oder mich selbst meine.

Kitty drückt sich von mir weg und schiebt mich mit aller Kraft ins Badezimmer, wo sie mir die Tasche mit den Klamotten in die Hand drückt.
„Anziehen, fertig werden!", befiehlt sie und schließt die Tür.

Ich öffne den Reißverschluss der Tasche und ziehe das Krankenhaushemd über meinen Kopf. Unter den Klamotten finde ich eine graue Jogginghose, ein einfaches weißes T-Shirt und einen schwarzen Hoodie. Außerdem Sneakersocken und Boxershorts.
„Calvin Klein", murmele ich anerkennend bei Betrachtung der Unterhose. „Der feine Herr gönnt sich."
Außerdem finde ich ein Paar teuer aussehende Sneaker, die sich Caleb ganz sicher nie geleistet hätte.

Nachdem ich die Sachen angezogen habe, blicke ich in den Spiegel und sehe Finn an. Ich atme tief durch und sehe, wie sein Mund sich zu einem schiefen Lächeln verzieht. Fuck, er sieht echt gut aus.
„Dann wollen wir mal, Mr. Campbell."

•••

Vor dem Krankenhaus führt Kitty mich zu einem kleinen, knallroten Mini und bedeutet mir, meine schwarze Tasche, in der sich nun nur der Rucksack befindet, den Finn bei deiner Zugfahrt dabeihatte, im Kofferraum zu verstauen. Die Klamotten, die er trug, wurden entsorgt, da sie nicht mehr verwendbar waren. Zu gern hätte ich einen Blick in den Rucksack geworfen, doch ich wollte Kitty nicht verwirren und so habe ich das für später geplant.

„Da soll ich reinpassen?", frage ich ungläubig, als sie mir allen Ernstes die Beifahrertür aufhält. Die kleine Cousine rollt mit ihren großen Augen und grummelt: „Diese Witze werden nie aufhören, was? Los, rein da!"

Unbeholfen klettere ich auf den Sitz und falte meine langen Beine in den Fußraum. Dass ich nicht fast in meine Knie beißen kann, ist auch nur der Tatsache geschuldet, dass der Sitz bis zum Anschlag nach hinten gestellt ist.
Kittys Sitz hingegen ist fast bis ganz nach vorn geschoben und sie gleitet mühelos auf den Fahrersitz neben mir. Kurz lächelt sie mir zu und dann sausen wir los.

„Ich habe alles an Informationen über die Leute in dem Zug zusammengetragen, was ich finden konnte", erzählt sie während der Fahrt. „Du wirst ja ohnehin keine Ruhe geben und so habe ich dir zumindest einen Teil der Recherche abgenommen."
„Danke, Kitty", murmele ich und sehe gedankenverloren aus dem Fenster.
„Es sind einige noch nicht identifiziert worden, also rechne nicht mit Vollständigkeit."
„Hm", mache ich nur.

Ich stelle während der Fahrt fest, dass ich noch nie in Providence war. Mein ganzes Leben hat sich immer in und um Boston gedreht und für Reisen oder Urlaub fehlten mir stets die Mittel. Es unterscheidet sich nicht groß von Boston, als wir durch idyllische Vororte fahren mit ähnlich aussehenden Häusern, gepflegten Vorgärten und Einfahrten. Trotzdem sauge ich die Eindrücke in mich auf, denn obwohl ich Orte dieser Art kenne, habe ich nie in solchen gelebt. Als Zuhause kenne ich nur große Mehrfamilienhäuser mit Nachbarn über, unter und neben dir. Ständig Krach, enge Räume, viele Menschen und wenig Privatsphäre.

Kitty biegt in eine der sauberen Einfahrten ein und vor uns öffnet sich ein Garagentor. Mühelos steuert sie den kleinen Mini in die Garage neben einen riesigen, schwarzen SUV und stoppt den Motor. Ich bemühe mich ein Pokerface zu bewahren und nicht wie ein kleines Kind laut „Wow!" zu rufen.
„Warum hast du mich nicht mit dem abgeholt?", frage ich stattdessen und deute auf das schwarze Monstrum.
„Damit du mich tötest, weil ich dein Auto berühre?", lacht sie. „Ich denke ein Krankenhausaufenthalt in unserer Familie reicht fürs Erste."

Ich glotze sie ungläubig an und schaue dann wieder auf das große Auto neben uns. Heilige Scheiße!
Kitty steigt beschwingt aus dem Auto und flitzt herum zu meiner Seite, um mir die Beifahrertür zu öffnen.
„Muss ich dir beim Entfalten helfen, oder geht es?", fragt sie und ich höre eindeutigen Sarkasmus in ihrer Stimme. Offenbar rechnet sie mit einer weiteren patzigen Bemerkung zur Größe ihres Gefährts.

„Danke, geht schon", mache ich nur und klettere aus dem Mini. Gerade ist mir nicht nach dummen Sprüchen, denn ich bin zu überwältigt davon, was diesem Finn - und jetzt anscheinend mir - gehört.
„Finn?", kommt es von Kitty, als sie die Tasche aus dem Kofferraum holt und diesen wieder schließt. „Ich muss dir noch was sagen."

Ich folge ihr zu einer Tür, die offenbar von der Garage ins Haus führt und blicke sie fragend an. Kitty öffnet die Tür und sieht mich entschuldigend an.

„Willkommen zu Hause!", brüllen uns unzählige Menschen aus einer Küche entgegen.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now