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Entsetzt starre ich in unzählige, lachende Gesichter und muss dem urplötzlich einsetzenden Fluchtreflex widerstehen, um nicht schreiend das Weite zu suchen. Kitty hakt sich bei mir unter und zieht mich in die Küche, in der sich etwa zwanzig Menschen befinden, die mich allesamt freudig anstrahlen.
„Toll, dass du wieder da bist, Finn", ruft mir ein blonder Mann in einem Jackett zu.
„Wir haben uns solche Sorgen gemacht", mischt eine schwangere Frau sich ein.

Alle haben irgendwelche Getränke in den Händen und im Hintergrund sehe ich Luftballons, Blumen, allerlei Kuchen und sogar eine Girlande mit dem Schriftzug ‚Willkommen zu Hause, Finn!'.
„Ich konnte sie nicht aufhalten", murmelt Kitty entschuldigend neben mir und ich kralle mich hilflos an ihrem dünnen Ärmchen fest.

Ein lachender Kilian kommt zwischen den Leuten hervor und umarmt mich glücklich.
„Du glaubtest doch nicht wirklich, dass du ohne Party davonkommst, Bruder."
Ich zwinge mir ein hilfloses Lächeln auf mein fremdes Gesicht und überlege, ob es wohl sinnvoll wäre jetzt einfach in Ohnmacht zu fallen.

Kilian klopft mir auf die Schulter und erlöst mich mit dem nächsten Satz.
„Ich hab' jeden gezwungen, sich ein Namensschild zu basteln. Keine Ahnung, wie krass deine Amnesie noch ist, aber das ist deine Chance, Leute loszuwerden, die dich ohnehin nerven, Alter."

Und tatsächlich erkenne ich erst jetzt, dass jeder der Anwesenden einen kleinen Klebezettel an seiner Kleidung hat, auf dem jeweils Namen stehen. Manche erscheinen unleserlich, andere sind mit Blumen oder Smileys verziert, aber alles in allem hilft mir diese Tatsache enorm weiter.

Alle glauben, ich habe Amnesie und wer weiß? Vielleicht habe ich das ja auch. Vielleicht gab es Caleb Martínez nie und ich bin wirklich Finn Campbell, habe im Koma ein ganzes Leben geträumt und kann mich nun an mein eigenes, wirkliches Leben nicht mehr erinnern.

„Jetzt komm' und umarme gefälligst deine Tante", fordert mich eine ältere Frau auf und zieht mich ungefragt in ihre Arme. Ich erwidere ihre Umarmung unbeholfen, während Kilian und Kitty mich freudestrahlend beobachten. Verzweifelt wühle ich in meinem Gedächtnis nach ihrem Namen und wieder ist Kilian mein Retter.
‚Dana', formt er tonlos mit seinen Lippen und ich nicke ihm dankbar zu.

„Hallo Tante Dana", murmele ich pflichtbewusst und sie hält mich an den Schultern etwas von sich weg, um mich eingehend zu betrachten. Sie hat ebenfalls verrückte Locken wie Kitty, nur dass ihre kürzer geschnitten und von einzelnen weißen Strähnen durchzogen sind. Die großen Augen und das schmale Gesicht sind aber fast wie bei Kitty.

„Du siehst aus wie Finn und du kennst auch meinen Namen, aber Finn hat mich in seinem ganzen Leben noch nicht Tante genannt", seufzt sie und streichelt liebevoll über meine wuscheligen Haare. Dafür muss sie sich fast auf die Zehenspitzen stellen.
„Entschuldigung", gebe ich betreten zurück und sie lacht heiser.
„Alles gut, es freut mich, zur Abwechslung mal von einem von euch Jungs so angesprochen zu werden", wiegelt sie ab und drückt sich erneut kurz an mich, bevor sie mich aus ihrer Umarmung entlässt. „Wegen mir darfst du das gern beibehalten und du-", damit zeigt sie auf Kilian „kannst dir das gerne abgucken."

Kilian gluckst lachend neben uns und stößt seine Schulter liebevoll an ihre.
„Okay, Oma Dana", witzelt er und erntet einen Knuff in die Seite.
Kitty hakt sich wieder bei mir unter und lächelt zu mir hinauf.
„Wir bringen erst mal deine Sachen nach oben, okay?", schlägt sie vor und ich nicke dankbar.

„Ich habe auch extra Frikassee gemacht, Finn", ruft die Tante mir nach und ich lächele sie unbeholfen an, als Kitty mich aus der Küche geleitet.
„Was ist Frikassee?", frage ich nur für die Cousine hörbar und sie kichert neben mir.
„Dein Lieblingsessen. Du suchst dir immer die Kapern raus und isst unsere auch", erklärt sie und ich sehe sie mit großen Augen an.
„Veraschst du mich gerade?", frage ich ungläubig und sie schüttelt lachend den Kopf.
„Nein, Finn", erwidert sie. „Dana macht immer ein zusätzliches Glas Kapern rein, weil sie weiß, dass du sie so magst."

Ich zwinge mir ein verzweifeltes Lächeln aufs Gesicht und presse nur ein „Aha" zwischen meinen Zähnen hervor. Der arme Finn Campbell scheint unter extremer Geschmacksverirrung zu leiden, denke ich still.

Kitty führt mich durch das durchaus geschmackvoll und minimalistisch eingerichtete Wohnzimmer, das über einen gigantischen Fernseher und ein unfassbar gemütlich wirkendes Sofa verfügt.
„Ich tue jetzt einfach so, als wäre das alles neu für dich, okay?", schlägt sie strahlend vor und bleibt aufgeregt vor mir stehen. „So wie früher, wenn wir gespielt haben, dass einer von uns blind ist und der andere ihn geführt hat."

In diesem Moment möchte ich diese kleine Frau am liebsten ganz fest drücken bis sie quietscht. Stattdessen tue ich ganz cool und erwidere: „Aber ich bin nicht blind, Kitty."
Sie rollt mit ihren großen Augen und sagt: „Sei kein Spielverderber, Finn. Wir waren immer so ein gutes Team. Komm', das macht sicherlich Spaß! Wir tun einfach so, als wüsstest du gar nichts."

„Naja, Kitty", erinnere ich sie sanft und tippe an meinen Kopf. „Ich muss gar nicht wirklich so tun."
Kitty hüpft einmal in die Hände klatschend und greift sogleich meine Hand, um mich ins Wohnzimmer zu ziehen.
„Das ist das Wohnzimmer", verkündet sie überschwänglich und knufft mich in die Seite als ich ein „Echt? Krass! Hätte ich nicht gedacht!" antworte.

„Hier liegst du meistens abends auf dem Sofa, schaust am liebsten Dokumentationen und willst dich von deiner liebsten Lieblingscousine und deinem nicht so schlauen Bruder einfach nicht überreden lassen, auch mal eine Serie oder eine coole Filmreihe zu gucken", erklärt sie begeistert. „Am liebsten magst du Dokus über Autos oder Schiffe."
„Ist das so?", frage ich und muss dem Impuls widerstehen, mir den Finger in den Hals zu stecken. Finn Campbell scheint auch ein Langweiler zu sein.

„Die Küche hast du ja schon gesehen, hier unten ist noch ein kleines Gästebad und dort hinten geht es zum Garten", redet Kitty unbeirrt weiter. „Lass' uns nach oben gehen, da gibt es noch mehr zu sehen."

Fröhlich wie ein Kind, was enormen Spaß an einem Rollenspiel hat, hüpft sie vor mir die Treppen nach oben und ich folge ihr lachend. Selbst wenn Finn Campbell ein geschmacksverirrter Langweiler ist, gefällt mir sein Leben schon jetzt außerordentlich gut.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now