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Ein Zugunglück. Auf Grund starker Windböen am Tag zuvor war ein Baum auf eine Weiche zwischen Boston und Providence gestürzt. Mitarbeiter der Bahn konnten die Gleise zwar vollständig räumen, später stellte sich jedoch heraus, dass ein kleines Holzstück die Weiche blockiert und somit funktionsunfähig gemacht hatte. Die Weiche gab dem System zwar das Signal zurück ordnungsgemäß zu arbeiten, tat es in Wahrheit jedoch nicht.

Zwei Züge, einer von Providence nach Boston, der andere unterwegs in die Gegenrichtung, prallten aufeinander und entgleisten jeweils. Im Zweiten saß ich. Oder vielmehr mein Körper. Achtundzwanzig Menschen starben, einhundervierzehn wurden verletzt, zweiundsechzig von ihnen schwer. Die Verletzten wurden auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt, ich liege im East Providence Medical Center und gehörte zu den Schwerverletzten.

Kitty sitzt neben meinem Bett und dicke Tränen laufen über ihre Wangen, nachdem sie meine über Nacht erfassten Erkenntnisse um ihre Informationen erweitert hat. Ihre Locken sind heute zu einem Dutt zusammengefasst und lassen ihre Augen noch größer in ihrem schmalen Gesicht wirken.
„Als Kilian mich anrief und meinte, ich solle mich setzen, wusste ich sofort, dass dir etwas zugestoßen war", erzählt sie schniefend. „Ich hatte ja schon immer so eine Art sechsten Sinn und habe dir an dem Tag noch gesagt, du solltest lieber erst am Abend fahren. Doch du meintest, das wäre dir dann alles zu stressig, weil du am nächsten Tag Klausuraufsicht hattest. Hättest du mal auf mich gehört, du Idiot."

Unbeholfen tätschele ich ihre Hand und frage mich, wie dieser Finn sich in solch einem Moment wohl seiner Cousine gegenüber verhalten würde. Kitty zwingt sich ein Lächeln auf und streicht über meine ungewohnten Bartstoppeln.
„Aber du hast es geschafft, Finn", beruhigt sie sich langsam. „Das ist die Hauptsache."

„W-Weiß man von den anderen?", wispere ich. „Von denen, die es n-nicht geschafft haben?"
Kitty seufzt und drückt meine Hand.
„Typisch Finn", lacht sie tränenerstickt. „Immer nur um die anderen besorgt. Ich schaue mal, ob ich was finden kann."
„D-Das wäre toll", gebe ich zurück und schließe meine Augen, in der Hoffnung, dass die kleine Frau den Wink versteht und mich allein lässt.

Sie flüstert etwas darüber, dass sie in die Cafeteria des Krankenhauses gehen wird und lässt mich tatsächlich im Zimmer zurück. Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster, mein Kopf voller Fragen.

Was, wenn ich tot bin? Was, wenn mein Körper tot ist und mein Geist in diesen fremden Körper geflohen ist um weiterzubestehen? Wo ist der Geist, der vorher in diesem Körper lebte? Der Geist von Finn, dem Lehrer, der stets um andere besorgt ist?
Caleb, der Schulabbrecher, hatte nie Zeit sich um andere zu sorgen, weil er selbst ständig in Notsituationen geriet. Seien es nun gekündigte Aushilfsjobs, eingezogene Bankkarten oder ausbeuterische Mitbewohner.

War dies vielleicht ein Versuch des Karmas mein Konto wieder auszugleichen? Nach all dem Pech, was ich in meinem Leben hatte, dachte das Universum vielleicht: Hey, der Typ da hat jetzt mal einen Neuanfang verdient. Lassen wir ihn in einen neuen Körper in eine coole Lebenslage.
Und zufällig war dieser Finn genau im gleichen Zug wie ich und erfüllte wohl alle Qualifikationen.

Nur erklärt das noch nicht, wo sein Geist ist. War sein Karmakonto auch nicht ausgeglichen? Hatte er zu viel Glück gehabt und sollte nun mal in den Körper eines Pechvogels? Wohnt er jetzt in meinem alten Körper?

Nun, zumindest bist du nicht hässlich, Finny-Boy, denke ich bei mir. In meinem Caleb-Leben hatte ich zwar oft Pech, aber mit mir selbst war ich immer ganz zufrieden gewesen. Dafür wird der Gute aber auch ausreichend andere Sorgen haben, wie zum Beispiel die Tatsache, dass er keinen Ausweis oder Geld dabei hat, weil nämlich all seine Sachen noch in der Wohnung sind, aus der er ja rausgeschmissen wurde und der Vormieter seines Körpers in einer Kurzschlussreaktion einfach in den Zug gesprungen ist, um seinen rauchenden Kopf freizubekommen.

Die Tür öffnet sich erneut und Kilian kommt mit Kitty und einem Coffee-to-go Becher herein.
„Hey Bruder", lacht er mich an. Wie kann jemand immer so fröhlich sein? Es muss schwer sein, Kilian nicht zu mögen.
„Wie sieht's mit dem Aufstehen aus, der Kaffee hier ist scheußlich."
„Besser, Bruder", rolle ich mit den Augen und er sieht mich entsetzt an.
„Was ist?", frage ich verwirrt und auch Kitty lacht unbeholfen.
„Du bleibst wohl lieber noch eine Woche, Mann", kichert er. „Du nennst mich einfach Bruder? Normalerweise höre ich nur Kilian oder auch mal Idiot. Bruder hast du mich noch nie genannt."

„Ach", mache ich und fasse mir theatralisch an die Stirn „Dann muss ich mir den Kopf wohl ziemlich heftig gestoßen haben, du Scherzkeks. Der schlechte Kaffee hier tut auch noch sein Übriges."
Kitty hebt sowohl ihre Hände als auch ihre Augenbrauen und sagt lachend: „Das mit dem heftigen Stoß gegen den Kopf glaube ich dir sofort. Wer bist du und was hast du mit Finn gemacht? Finn trinkt keinen Kaffee."

Ertappt sehe ich die beiden an, die immer noch lachen und antworte trocken: „Mein Name ist Caleb und ich trinke gern Kaffee."
Kilian schüttelt laut lachend seinen Kopf, kommt auf mich zu und hält mir auffordernd seinen Kaffeebecher hin.
„Beweise es!", befiehlt er. Ich nehme den Becher entgegen ohne meinen Blick von Kilian abzuwenden und trinke einen großen Schluck.
„Alter", meckere ich und schüttele mich angewidert. „Das ist doch kein Kaffee, das ist Spülwasser!"

Kitty und Kilian brechen beide in schallendes Gelächter aus und Kilian klopft mir leicht auf die Schulter.
„Doch noch ganz der Alte", freut er sich. „Freu dich schon mal auf morgen, dann geht's endlich raus hier und nach Hause."
„Hoffentlich gibt's da besseren Kaffee", brumme ich missmutig und spüle den widerlichen Geschmack mit dem Wasser, das auf dem kleinen Tisch an meinem Bett steht, aus meinem Mund.

Kitty lacht wieder fröhlich und schüttelt wieder ihren Kopf.
„Das kauft dir jetzt ohnehin keiner mehr ab, Finn."
„Und dieses knallharte Pokerface kannst auch nur du", pflichtet Kilian ihr bei.
Ich stimme unbeholfen in ihr Lachen mit ein und denke still, dass ich ja gar nicht gelogen habe. Wenn sie mir nicht glauben, dass ich die Wahrheit sage, kann ich ja auch nichts dafür, oder?

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now