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Es ist mir wieder eingefallen.
Ich heiße nicht Finn Campbell, das war mir schon klar. Aber seit diese Kitty und dieser Kilian gegangen sind, habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich wohl heiße.

Welche Familie außer den Kardashians gibt ihren Kindern überhaupt so viele Namen mit K? Und dann auch noch bei Nachnamen mit K. Oder C. Und warum heiße ich Finn? Müsste es dann nicht Kinn heißen?

Ich schweife ab. Schweifen die Gedanken dieses Finns auch oft ab? Sicherlich nicht, wenn er Lehrer geworden ist. Fakt ist: ich bin nicht Finn. Mein Name ist Caleb Martínez. Mit C. Sehr viel mehr weiß ich leider noch nicht.

Der Rest sind nur Fetzen, wie meine Karte im Geldautomaten und irgendwas mit einem Mitbewohner. Viel wichtiger ist die Frage: warum glauben diese Leute, dass ich ihr Freund oder Bruder oder Cousin oder Hund oder was auch immer bin? Hilfe, mein Gehirn verliert noch schneller den Faden als sonst.
Warum glauben diese Leute, dass ich dieser Finn bin?

Ich habe mal gehört, dass jeder einen Doppelgänger hat, aber irgendwie ging ich immer davon aus, dass meiner irgendwo in Ungarn oder Frankreich herumläuft und nicht in Boston.
Moment, bin ich überhaupt in Boston? Mein Kopf schmerzt vom vielen Nachdenken, ich werde noch ein bisschen die Augen zumachen.

•••

Ich erwache, weil jemand an mir.. herumwischt? Verwirrt öffne ich die Augen und sehe eine junge Krankenschwester, die mich offenbar gerade mit einem Schwamm wäscht.
„Sie müssen das nicht tun", seufze ich müde und sie zuckt zusammen, ihre Wangen leicht gerötet.
„Es macht mir nicht aus", lächelt sie schüchtern und zieht das Krankenhaushemd wieder über meine Körpermitte, bevor sie mich zudeckt, ihr Blick noch immer von mir abgewandt.

Ich erkenne, dass es ihr in der Tat nichts ausgemacht zu haben scheint und zwinge mir ein Lächeln auf mein sich noch immer etwas schwergängig anfühlendes Gesicht.
„Dann danke", wispere ich und sie kichert leise, bevor sie die Waschutensilien zusammenräumt und eilig mein Krankenzimmer verlässt.

Ich blicke ihr nach und frage mich, ob dieser Finn wohl eine Freundin hat. Wenn ja, tut es mir für diese furchtbar leid, denn ich habe leider überhaupt kein Interesse an Frauen.
Ein Lachen lässt mich zusammenzucken, bis ich merke, dass es von mir selbst kommt.

Die Freundin von diesem Finn? Ich denke so, als würde ich die Fassade, mich als jemand anderes ausgeben zu können, lange aufrecht erhalten können. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis der echte Finn Campbell auftaucht und mich entlarvt.

Die Tür öffnet sich erneut und Kilian kommt herein, ein schelmisches Grinsen auf seinem Gesicht.
„Was hast du denn mit der gemacht, Bruder?", fragt er mit einem Wink in die Richtung, in die die kleine Krankenschwester verschwunden ist, und ich zögere kurz. Wie würde der echte Finn reagieren? Redet er auf die gleiche Art mit ihm? Muss ich jetzt einen „Weiber"-Spruch machen? Ich sollte ihm vermutlich sagen, dass ich nicht sein Bruder Finn bin.

„Sie hat mich mit einem Schwamm gewaschen", höre ich mich sagen. Kilian lacht laut und schüttelt ungläubig den Kopf.
„Du kannst es auch nicht lassen, was?", grinst er. „Immer die armen Mädels an der Nase herumführen. Ich wette, sie hat sich darum gerissen, dich waschen zu dürfen. Soll ich was klarmachen, dass einer der Pfleger dich wäscht? Ich hab da vorhin einen auf dem Gang gesehen, der-"

Ich schließe ermüdet meine Augen und seufze. Das kann nicht wahr sein. Finn Campbell steht auch auf Männer?
„Sorry, Mann", lacht Kilian und setzt sich neben mein Bett. „Du hast sicher gerade andere Dinge im Kopf als heiße Pfleger. Warte, kannst du dich überhaupt daran erinnern, dass du schwul bist? Ich könnte mir vorstellen, dass Sandra-"

„Ich glaube nicht, dass man vergessen kann, dass man schwul ist, Kilian", knurre ich und er unterbricht sein Gefasel.
„Hast recht", pflichtet er mir bei, wechselt aber sogleich das Thema. „Also Kitty hat schon wie verrückt bei dir geputzt, obwohl das ja überhaupt nicht notwendig ist, aber sie bestand darauf. Und sie hat das Gästezimmer vollgeräumt mit ihrem Zeug, weil sie die erste Hälfte der Ferien bei dir ist und ich die Zweite. Die Ärzte haben gesagt, dass ich dich nach Hause bringen darf, sobald du aufstehen kannst. Bist du denn schon mal aufgestanden?"

Ich öffne vorsichtig meine Augen und blicke ihn fragend an.
Ich habe ein Gästezimmer?, frage ich mich. Mein Kopf schüttelt sich leicht, denn nein, bislang bin ich noch nicht aufgestanden.
„Sollen wir es mal probieren?", bietet Kilian an und steht auf, um mir seine Hand anzubieten. „Dann musst du vielleicht auch nicht mehr in diese Flasche pinkeln, das ist schon ziemlich unsexy."

Zögerlich greife ich seine Hand und setze mich auf. Kilian schlägt die Decke, die die schüchterne Krankenschwester vorhin über meine Beine gezogen hat, weg und ich frage mich kurz, ob meine Zehen schon immer so unnatürlich lang waren. Bevor ich den Gedanken weiterverfolgen kann, zieht Kilian kurzerhand meine Beine zur Bettkante und grinst mich freudig an. Der Linoleumfußboden fühlt sich kühl und glatt unter meinen nackten Fußsohlen an und ich wackele mit meinen langen Zehen.

„Bereit?", fragt er und ich zucke mit den Schultern. Kilian greift unter meine Schultern und zieht mich ächzend nach oben. Ich spanne die Muskeln in meinen Beinen an, stütze mich auf seinen Schultern ab und - stehe.
Kilian ist etwa einen Kopf kleiner als ich und lacht begeistert.
„So gefällt mir das, mein Großer", feuert er mich an. „Sollen wir ein bisschen versuchen zu gehen?"

Ich nicke zaghaft und schiebe meinen rechten Fuß nach vorn, Kilians starke Arme um meine Mitte gelegt. Ich habe keine Schmerzen, es fühlt sich eher alles etwas eingerostet an und irgendwie.. fremd. Außerdem kommt mir seine Bemerkung von vorhin in den Sinn und ich murmele: „Ich muss pinkeln."

Mein neuer Bruder lacht und nickt zustimmend, sein Finger zeigt auf eine kleine Tür neben der dem Eingang des Zimmers.
„Das wäre dann einmal dort entlang, Mr. Campbell", verkündet er feierlich und beginnt, mich umsichtig zum Badezimmer zu führen.

Die letzten Schritte schaffe ich sogar aus eigener Kraft und blicke ihn entschuldigend an. Irgendwie würde es sich seltsam anfühlen, sähe dieser mir fremde Mann mir beim Pinkeln zu.
„Ich bleib' genau hier", scheint er mein Dilemma zu erkennen und positioniert sich wie ein Bodyguard vor der Badezimmertür.

Ich lehne die Tür also nur leicht an, stelle mich vor die Toilette, hebe das Hemd und - okay, was ist hier los? Bei den Zehen war ich mir nicht ganz sicher, aber den Teil meines Körpers, den ich gerade in der Hand halte, kenne ich ziemlich gut und eins ist klar: das ist nicht meiner.

Ich drehe meinen Kopf zum Waschbecken und blicke in den Spiegel darüber. Mir entgegen blickt ein Mann, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now