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Entweder sind alle Kinder dieses Viertels in die Ferien gefahren oder aber ich sehe so bedrohlich aus, dass sich niemand in meine Nähe traut. So oder so habe ich den Spielplatz, zu dem Kilian und Kitty mich vor gefühlten Ewigkeiten mitnahmen, für mich allein. Ich sitze auf der Schaukel und starre vor mich hin.

Finn hat recht. Ich bin ein Loser. Doch es ist ein Unterschied zwischen dem eigenen Wissen und dem eines anderen. War ich wirklich so naiv zu glauben, er würde es nicht herausfinden? War ich wirklich so naiv zu glauben, ich könnte seine Rolle übernehmen?

Ich blicke zum Himmel und seufze. Nur kleine Wattewölkchen sind zu sehen, obwohl ich mir gerade nichts sehnlicher als ein Gewitter wünschen würde. Ein Blitzeinschlag und alles wäre vielleicht vorbei. Zumindest für mich.

„Wie hieß sie?", fragt jemand und ich sehe mich selbst - nein, Finn in meinem Körper - auf der Schaukel neben mir sitzen. In seinen Händen hält er meine kleine, geöffnete Holzkiste, die Fotos aus dem Fotoautomaten ganz oben.
„Rosie", sage ich erstickt und sehe wieder nach vorn.
„Caleb, es tut mir leid, was ich gesagt habe", redet Finn weiter, doch ich schüttele einfach nur den Kopf. „Ich hätte dich nicht verurteilen dürfen, ohne deine Geschichte zu kennen."

„Kein Ding", tue ich seine Worte ab. „Du hast ja recht."
„Nein, Caleb. Es war nicht fair von mir, Dinge vorauszusetzen oder einfach alles an mich zu reißen, ohne deine Meinung in der ganzen Sache miteinzubeziehen. Du steckst ebenso in diesem Schlamassel wie ich und ich war einfach ein Arschloch."

Ich sage nichts, sehe nur geradeaus und atme zittrig ein.
„Tut mir leid wegen dem Teller", murmele ich. „Ich bezahle ihn dir."
„Spinnst du, Caleb?", fragt Finn aufgebracht. „Ich kann von Glück reden, dass du ihn nur auf den Boden und nicht in mein Gesicht geworfen hast! Verdient hätte ich es."
„Hör' auf damit, Finn."
„Nein, es tut mir wirklich leid", sagt er ernst. „Ich war ein Arschloch. Schon wieder. Und ich möchte dir wirklich gern helfen. Egal, ob wir das wieder hinbekommen oder nicht."

„Ich brauche dein Mitleid nicht", brumme ich und stoße mich leicht mit den Füßen vom Boden ab, um die Schaukel, auf der ich sitze, in Bewegung zu bringen.
„Kriegst du auch nicht", entgegnet er schlicht und steht auf. „Aber meine Hilfe und Unterstützung bekommst du, dagegen kannst du nichts machen."
Verwirrt runzele ich die Stirn, als Finn einfach die Kette meiner Schaukel packt, seine Füße neben meine Hüften auf das kleine Brett quetscht und sich daraufstellt.

„Was tust du?", frage ich verdattert.
„Wir schaukeln es raus", entgegnet er und beugt seine Knie leicht. „Los, mach' du die Beine!"
Ohne, dass ich es will, schwingt die Schaukel allmählich höher und ich bewege vorsichtig meine Beine vor und zurück.
„Was soll das?", rufe ich.
„Wir schaukeln es raus", kommt es erneut von Finn. „Wir schaukeln so hoch, dass wir unsere Differenzen unten lassen und sie in unserem Fahrtwind davonwehen."

Immer höher schwingen wir und ich umklammere fest die Ketten. Finns Beine an meinen Seiten geben mir zusätzlichen Halt und ich bewege meine eigenen nun im Takt unserer Pendelbewegung.
„Noch höher, Caleb!", ruft er ausgelassen. „Gleich schaffen wir einen Überschlag!"
„Ich hoffe doch nicht!" kreische ich als Antwort, kann mir aber ein anschließendes Lachen nicht verkneifen.

„Schließ' deine Augen", befiehlt er und ich tue, was er sagt. Da ist nur der Wind auf meinem Gesicht und in meinen Haaren, das leicht schummerige Gefühl in meinem Bauch, immer dann, wenn wir einen der beiden Scheitelpunkte erreichen, und der Halt von seinen Beinen rechts und links von mir. Ich atme tief durch und spüre das Lächeln auf meinem Gesicht. Und für diesen kurzen Moment, hier mit Finn auf der Schaukel, bin ich einfach nur ich. Und das reicht.

„Ist das nicht das schönste Gefühl?" fragt er leise über mir und ich seufze zustimmend. „Nur du, die momentane Schwerelosigkeit und der Wind in deinem Haar."
Allmählich verlangsamt die Schaukel ihre Pendelbewegungen, was nicht zuletzt daran liegt, dass ich meine Beine nicht mehr vor und zurück bewege. Ich lasse sie nur schlaff herunterhängen und auch Finn hat seine Bewegungen eingestellt.

Langsam öffne ich meine Augen und atme ruhig ein und aus. Ich blicke einfach nur geradeaus und frage mich, wie es weitergehen soll.
Was, wenn Finn und ich nie wieder zurücktauschen? Sind wir auf ewig aneinander gebunden? Unfreiwillig durch eine Laune des Schicksals, der Natur oder des Universums dazu verdammt, den Rest unseres Lebens vorzugeben der jeweils andere zu sein?

Die Schaukel wackelt leicht, als Finn von der Schaukel steigt und schließlich taucht mein Körper wieder vor mir auf. Er lächelt, hält mir die Hand entgegen und sagt: „Lass' uns nach Hause gehen, Caleb."

Lügenleben | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt