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„Wohin möchtest du fahren, Finn?", fragt Dana mich und ich zucke mit den Schultern. Im Moment bin ich sowohl orientierungslos als auch konzentriert auf die Tatsache, uns nicht in einen Verkehrsunfall zu verwickeln.
„Wollen wir vielleicht an den Fluss fahren?", schlägt sie vor. „Früher waren wir jede Woche dort."
„Okay", entgegne ich zögerlich und bleibe an einer roten Ampel stehen.

Ohne dass ich beichten muss, dass ich keinerlei Ahnung habe, welche Richtung ich einschlagen muss, murmelt Dana: „An der nächsten Kreuzung rechts und dann immer geradeaus."
Ich nicke nur und folge ihren Anweisungen.

Auf der Fahrt, die etwa zwanzig Minuten dauert, weist sie mich immer dezent auf Kleinigkeiten hin. Dass ich den Blinker setzen muss, dass die Fahrzeuge von rechts Vorfahrt haben, als wir durch ein ruhiges Wohngebiet fahren, oder auf Fahrradfahrer, die von hinten kommen könnten, als ich rechts abbiege.

Schließlich kommen wir auf einem Parkplatz vor einer Wiese an, die hinab bis zum Flussufer reicht. Es sitzen bereits einige Menschen auf Picknickdecken und ich sehe spielende Kinder und sogar zwei herumtollende Hunde. Glücklicherweise ist der Parkplatz so groß, dass ich das Auto nur auf einen der Plätze rollen lassen muss und es letztlich ausschalte. Ohne etwas zu sagen, legt Dana den Schalthebel in die Parkposition und sagt: „Wenn wir ein Stück runtergehen, ist es nicht mehr ganz so voll."

Ich nicke und steige aus, um neben ihr über die Wiese am Fluss entlangzugehen. Mein Kopf sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, doch ich habe keine Ahnung, worüber man mit Tanten, die einen aufgezogen haben, spricht.

„Wie geht es dir, Finn?", beginnt Dana das Gespräch, ihr Blick weiterhin nach vorn gerichtet.
„Körperlich ganz okay", erwidere ich ehrlich.
„Viele Lücken?", erkundigt sie sich und ich nicke nur. Fast hätte ich geantwortet: „Dieses komplette Leben ist eine einzige Lücke.", doch gerade bei dieser Frau habe ich das Gefühl, sie durchschaut mich.

„Ich helfe dir, wenn du magst", schlägt sie freundlich vor. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich dir das Autofahren beibringe, Finn Campbell."
Ich lache unbeholfen und sage: „Ich bin ja froh, dass ich noch weiß wie man zur Toilette geht." Dana lacht aus vollem Halse und dabei wackeln ihre Locken ähnlich lustig wie bei Kitty.

„Den Part würde ich dann wohl deinem Bruder überlassen", kichert sie und ich kratze mich verlegen am Hinterkopf.
„Kitty und Kilian haben mir schon einiges erzählt", berichte ich. „Über meine Eltern."
Dana nickt und bleibt plötzlich stehen, um sich kurzerhand auf den Rasen unter uns zu setzen, ihr Gesicht nun dem Fluss zugewandt. Ich setze mich neben sie und blicke ebenfalls aufs Wasser.

„Und über dich?", fragt sie. Ich zucke mit den Schultern und schüttele leicht mit dem Kopf.
„Der Finn, den ich kenne, ist sehr neugierig", beginnt sie. „Er möchte immer wissen, wie es dem anderen geht und hilft, ohne darum gebeten zu werden. Darum wolltest du auch Lehrer werden. Vielleicht auch ein wenig, weil du gern recht hast." Sie lacht und ich grinse schief. „Außerdem bist du sehr ordentlich und fast schon etwas pedantisch, wenn es um Technik geht.

Du bist sehr sportlich und manchmal etwas zu konkurrierend, wobei du das nicht gern hörst und damit argumentierst, dass du einfach nur gern gewinnst", fährt sie fort und nun lache ich. Irgendwie kann ich mir das bei Finn gut vorstellen und so wie sein Leben zu sein scheint, hat er auch schon oft gewonnen.

„Man kann immer auf dich zählen und du liebst deine Familie sehr", schließt sie ihre Zusammenfassung über Finns Charakter und ich sehe sie lange an. Dana lächelt, doch ich meine, in ihren Augen etwas Feuchtes zu sehen.
„Wir hatten große Angst um dich, Finn. Ob du wieder ganz der Alte wirst, vermag ich nicht zu sagen, denn irgendwas ist anders an dir."

„Wäre es denn schlimm, wenn ich nicht mehr ganz der Alte wäre?", frage ich kaum hörbar und zupfe an einem Grashalm neben meinem Knie herum.
„Du bist der, der du bist", entgegnet sie. „Und ich bin froh, dass du hier bist. Du bist gut so wie du bist und wenn das jetzt ein wenig anders ist als vorher, bedeutet das nicht automatisch etwas Schlechtes."

Ich nicke verlegen und hoffe inständig, dass ihr diese Aussage nicht irgendwann leidtun wird. Ich spüre ihre dünnen Arme um meine Schultern und ihren Kopf, der sich an mich lehnt.
„Wer weiß, wofür es gut ist", seufzt sie und ich lege vorsichtig meinen Arm um sie.

•••

Dana erzählt viel an diesem Vormittag, während ich neben ihr im Gras liege und einfach nur in die Wolken sehe. Ich weiß nicht, wer von uns beiden es mehr genießt - ich, weil ich noch mehr über Finns Leben erfahre oder sie, weil sie in Erinnerungen schwelgen und darüber sprechen kann.

Ich erfahre viel über Finn, über Kitty und Kilian und Finns Eltern. Die Osterinseln waren dieser Ort, an dem sie Urlaub machten und Dana klärt mich auf, dass ich nach dem Schulabschluss sogar dort war, um Abschied zu nehmen. Kilian und ich hatten damals einen großen Streit darüber, weil Kilian ihren Verlust nie ganz überwinden konnte oder wollte. Tief in seinem Inneren hofft er noch immer, dass sie eines Tages vor seiner Tür stehen, doch Finn ist jemand, der klare Abschlüsse braucht, lerne ich.

Ich bewundere Finn und frage mich, ob jemand wie er wohl jemanden wie Caleb wahrgenommen oder gar zum Freund gehabt hätte. Vermutlich nicht, denn zwischen unseren Leben liegen Welten. Nicht nur finanziell und materiell, sondern auch die Lebensweisen unterscheiden sich grundsätzlich.

Finns Leben ist trotz des schweren Schicksalsschlags immer in geordneten Bahnen verlaufen, wie es scheint. Er hatte immer ein Zuhause und ein Umfeld, auf das stets Verlass war.

Unwillkürlich frage ich mich zum wiederholten Male, was wohl aus Finns Geist und meinem wahren Körper geworden ist.

„Wollen wir langsam zurück?", unterbricht Dana meine Grübelei. „Ich wollte heute Nudelauflauf machen."
Fragend sehe ich sie an.
„Ihr seid jeden Sonntag zum Essen bei mir", lacht sie. „Und vorher gehen wir beide meist eine Runde spazieren. Was denkst du, warum ich sonst plötzlich in deinem Auto saß?"
Ich lache unbeholfen und drücke ihre kleine Hand.
„Danke, Tante Dana", flüstere ich erstickt.
„Sag das nicht zu früh, mein Lieber", kichert sie. „Du darfst gleich die Zwiebeln schneiden und dabei heulst du jedes Mal."

Lügenleben | ✓Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon