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Als ich die Tür öffne, werde ich sogleich von Kitty umarmt, die auch augenblicklich beginnt, loszuplappern: „Ich habe dich vorgewarnt, dass wir kommen. Du kannst ja wohl nicht erwarten, dass wir uns entgehen lassen, wenn du mal einen Freund zu Besuch hast."

Ehe ich dazu komme, etwas zu erwidern, schiebt sie sich an mir vorbei und ich stehe Tante Dana gegenüber.
„Du musst die Neugierde deiner Cousine entschuldigen", lacht sie und gibt mir einen liebevollen Kuss auf die Wange.

„Und was ist der Grund, dass du hier bist?", frage ich schmunzelnd, woraufhin sie unschuldig dreinblickend einen Teller hochhält.
„Apfelkuchen", kommt es von ihr und ich schüttele lachend den Kopf, ehe ich ihr die Tür aufhalte.

Als ich den beiden Frauen in die Küche folge, sehe ich Finn in meinem Caleb-Körper am Wasserkocher hantieren und glaube, seine Finger zittern zu sehen.

„Hi, ich bin Kitty", geht die Cousine freudestrahlend auf ihn zu und bleibt mit einem breiten Lächeln vor ihm stehen. „Finn hat vermutlich nichts von uns erzählt, so wie er uns auch nichts von dir erzählt hat, aber wir freuen uns sehr, dich kennenzulernen."

Finn steht unschlüssig herum und betrachtet ihre angebotene, kleine Hand. Zögerlich ergreift er sie und ich kann sehen, dass er sehr mit sich kämpfen muss. Kitty zieht ihn kurzerhand an sich und schlingt ihre dünnen Ärmchen um ihn.

„Du zitterst ja richtig", lacht sie. „Keine Angst, ich beiße nicht."
Ich weiß, dass, wäre die Situation normal, Finn sie wahrscheinlich zur Ordnung rufen und ihr sagen würde, sie sollte den armen Mann in Ruhe lassen, doch er schließt sehnsuchtsvoll seine Augen und erwidert ungefragt ihre Umarmung, was mich einfach nur lächeln und mit den Schultern zucken lässt.

„Das ist Caleb. Er ist vermutlich sprachlos, weil du ihn gerade anfällst", versuche ich dennoch, seine Rolle halbwegs richtig zu spielen.

Dana geht nun ebenfalls auf die beiden zu und Kitty löst sich kichernd von meinem Körper.
„Caleb sieht aus, als könnte er eine Umarmung vertragen", stellt die Tante fest und hält ihm nun ihre Hand entgegen. „Ich bin Dana, Finns Tante und ich frage mich, ob er dich wohl heute schon umarmt hat."
Mit diesen Worten umarmt sie ihn ebenfalls einmal kurz und zwinkert mir neben seiner Schulter zu.

Ich kratze mir verlegen den Hinterkopf und versuche, das Thema zu wechseln, indem ich sage: „Ihr habt Kuchen mitgebracht?"

Tante Dana lässt den noch immer sprachlosen Finn los und nickt freundlich.
„Wir brauchten ja einen Vorwand, um deinen Freund kennenzulernen", verkündet sie. „Trinkst du Kaffee oder Tee, Caleb?"

Finn räuspert sich und zeigt dann auf den Wasserkocher.
„Gern einen Tee", sagt er und Kitty klatscht begeistert in die Hände.
„Dann hast du dir ja mit Finn genau den Richtigen ausgesucht. Wenn jemand Ahnung von Tee hat, dann er. Obwohl er nun auch endlich auf den Kaffeegeschmack gekommen ist. Hast du auch andere Gewohnheiten seit dem Zugunglück?"

„Kitty", zischt Dana ihrer Tochter zu. „Jetzt sei doch bitte nicht so neugierig."
„Ich habe zumindest nicht gleich die Zutaten für den Kuchen gekauft, als Kilian von Caleb erzählt hat", singt sie und macht sich ganz selbstverständlich an den Küchenschränken zu schaffen.

Ich blicke entschuldigend zu Finn, dessen Gesichtsausdruck ich nicht zu deuten weiß.

•••

„Also, wo kommst du her, Caleb?", möchte Kitty von Finn wissen, als wir alle gemeinsam an Tisch sitzen, jeder mit einem Stück leckerem Apfelkuchen vor sich. Finn verschluckt sich fast an seinem Bissen, den er gerade im Mund hat und sieht mich mit großen Augen an.

„Caleb kommt aus Boston", springe ich für ihn ein, während er sich mit einer Serviette den Mund abwischt.
„Ich bin sicher, Caleb kann auch für sich selbst sprechen, Finn", tadelt mich Tante Dana und alle Augen richten sich wieder auf meinen Körper.

„Ja", sagt Finn. „Ich komme aus Boston. Finn und ich haben uns im Zug kennengelernt."
„Und jetzt habt ihr euch wiedergefunden!", schwärmt Kitty. „Ein Glück im Unglück."
Beschämt blicke ich auf meinen Teller und schiebe die übrigen Krümel darauf hin und her. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Finn das anders sieht.

„Hast du auch Gedächtnislücken?", möchte Dana von Finn wissen. „Finn scheint sich an vieles zu erinnern, aber er hat auch einiges vergessen. Zum Beispiel Dinge aus seiner Vergangenheit."

Finn nickt mit meinem Kopf und erwidert: „Ja, das war bei mir auch so. Aber man soll ja ohnehin immer nach vorn schauen."
Dana lächelt ihn liebevoll an und wendet sich dann mir zu.
„Da hast du dir aber einen weisen Freund geangelt", freut sie sich und Finn macht mir mit einem Blick deutlich, dass ihm dieser Überraschungsbesuch langsam etwas zu viel wird.
„Und ich hoffe, ihr seid auch weise genug zu verstehen, dass ihr vielleicht langsam aufbrecht?", biete ich diplomatisch an und Kitty lacht ausgelassen.

„Oh, weil Caleb hier ist, bist du heute mal nicht ganz so direkt, Finn?", kichert sie und küsst meine Wange. „Schon gut, wir lassen euch zwei mal allein."
Finn atmet erleichtert durch und ich muss zugeben, dass es mir ebenso geht.

Wir begleiten beide Frauen zur Haustür und wieder findet das übliche Campbell-Kalligan-Umarmungsspiel statt. Kitty umarmt mich, Dana umarmt Finn, dann wird getauscht und es fehlt fast noch, dass Finn und ich uns umarmen.

„Bis bald, ihr Süßen", flötet Kitty auf dem Weg zu ihrem roten Mini und ich will ihr schon lächelnd nachwinken, als Finn meinen Arm herunterzieht und mit dem Kopf schüttelt.

„Du musst etwas deutlicher werden", brummt er, nachdem ich die Tür geschlossen habe.
„Nuschele ich?", frage ich und halte mir unbewusst die Hand vor den Mund.
„Nein", rollt er mit meinen Augen. „Ich bin nicht so.." Um Worte ringend fuchtelt er vor mir herum.
„Was?", hake ich nach. „Nett?"
„Ich bin auch nett!", schnauzt er. „Aber Dana scheint schon Verdacht zu schöpfen, denn so bin ich nicht."

Ich sehe ihn einen Moment lang an, versucht, etwas Bissiges zu sagen, doch ich bin müde. Müde vom Streiten, müde vom Schauspielern. Einfach müde. Also nicke ich und antworte nur: „Okay. Ich bemühe mich, finnischer zu sein."

Seine - also meine - Augen weiten sich und einen Augenblick später lachen wir beide laut los.
„Und wie..", schnappt Finn nach Luft. „Bin ich dann? Calebscher?"
Ich kichere ebenfalls und versuche, mich einigermaßen zu beruhigen.
„Calebig ist da vielleicht der richtige Ausdruck. Aber ich bin hier nur äußerlich der Lehrer, du müsstest mir also aushelfen."

Finn holt tief Luft und wird wieder etwas ernster.
„Danke, Caleb", sagt er.
„Wofür jetzt?", will ich die lockere Stimmung beibehalten, doch ich spüre, dass der Moment vorüber ist.
„Dafür, dass du mitspielst und nicht einfach abgehauen bist."
Ich lächele unbeholfen und fahre unruhig mit der Hand über meinen Nacken.
„Reicht ja, wenn nur ein Leben versaut ist."

Finn blickt mich lange an, sagt aber nichts.
„Ich denke, ich lege mich hin", unterbreche ich die unangenehme Stille. „Wir haben vermutlich noch einiges in meinen - also deinen - Schädel reinzubekommen. Da bin ich besser ausgeschlafen."
„Gute Nacht, Caleb", sagt Finn, ohne den Blick von mir abzuwenden.
„Gute Nacht, Finn", entgegne ich und gehe die Treppe langsam nach oben, um im Gästezimmer zu verschwinden.

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