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„Nehmen wir deinen oder meinen?", fragt Finn hinter mir und nimmt ganz selbstverständlich den perfekt gebrühten Tee von mir entgegen, nachdem er mir einen Kuss auf die Wange haucht. Ich lächele kurz, blättere aber weiterhin in einer Akte, die mich schon seit Freitagabend beschäftigt.
„Mir egal," murmele ich abgelenkt. „Vielleicht besser deinen."

Finn seufzt neben mir und legt sein Kinn auf meine Schulter.
„Vielleicht gehen wir besser zu Fuß", schlägt er vor und ich hebe verwirrt den Kopf.
„Dann kommen wir aber zu spät", wende ich ein.
„Nicht, wenn wir jetzt gleich losgehen."
„Aber ich wollte das hier noch-"
„Zum achtundsiebzigsten Mal durchlesen? Das kannst du auch heute Nachmittag tun, Caleb. Ein bisschen Ablenkung wird dir gut tun. Heute kannst du ohnehin nichts unternehmen", erklärt er entschlossen und greift meine Hand.

Ich seufze und lasse mich widerstandslos von ihm mitziehen.
„Ich schätze, du hast recht", brumme ich.
„Dass du dich an diese Tatsache immer noch nicht gewöhnt hast, ist mir vollkommen schleierhaft", witzelt er und bleibt kurz stehen, um mich mit seinen blauen Augen anzusehen.
„Nun, ich habe auch schon das ein oder andere Mal eine gegenteilige Erfahrung machen dürfen", grinse ich und küsse seinen hübschen Mund. „Los, komm! Wir müssen los."

Mit verschränkten Fingern gehen wir durch unser Viertel, um zu Tante Danas Haus zu gelangen. Ja, es ist nicht nur Finns Viertel, es ist inzwischen auch meins. Immerhin sind wir nun seit fast acht Jahren zusammen und ich habe bei und vor allem in ihm wirklich ein Zuhause gefunden.

Er, Kitty und Kilian halfen mir, meinen Highschoolabschluss nachzuholen und wenn man drei Lehrer als Nachhilfe hat, einen davon sogar nachts in seinem Bett, kann man nicht anders als das ganze Zeug irgendwann verstehen und so schloss ich sogar mit Bestnote ab.

Einen Führerschein habe ich nun ebenfalls. Die Fahrstunden gab mir Tante Dana, allerdings in ihrem alten Van, denn Finn weigerte sich mit Händen und Füßen, dass ich mich nochmal hinter das Lenkrad seines SUV setzte.

Sowohl den Führerschein als auch das Auto, einen simplen Audi A3 in schwarz, habe ich selbst bezahlt. Auch, wenn er es nicht möchte, überweise ich Finn jeden Monat Geld für die Miete. Ich will bei niemandem in der Schuld stehen. Schon gar nicht bei meinem eigenen Lebensgefährten.

Die Opfer des Zugunglücks wurden jeder mit einer großen Geldsumme entschädigt, was mir den Start in mein neues Leben noch einmal deutlich leichter machte.

Nach meinem Abschluss wusste ich sofort, was ich beruflich anstrebe und als ich meiner neuen Familie davon berichtete, dass ich vorhatte, soziale Arbeit zu studieren, waren bis auf Tante Dana zunächst alle etwas geknickt. Nach meinen erfolgreichen Praktikumswochen in der Schule hatten sowohl Kitty und Kilian, aber doch vor allem Finn darauf gehofft, dass ich ebenfalls Lehrer werden möchte.

„Solange du hierbleibst, kannst du werden, was du möchtest", sagte Finn schließlich lächelnd zu mir und umschloss meine Hand mit seinen Fingern und so entschied ich mich letztlich für ein Fernstudium, welches ich vor ein paar Monaten endlich abschloss.

Während des Studiums und wenn Finn vormittags in der Schule war, arbeitete ich als Putzhilfe in dem Krankenhaus, in dem ich auch aufgewacht bin. Finn meinte, ich müsste das nicht tun, aber ich wollte es gern. Die Arbeit machte mir nichts aus und ich dachte, wenn ich jemals einem Patienten begegnete, der vielleicht in einem fremden Körper gefangen war, hätte dieser zumindest jemanden, der mit so etwas Erfahrung hat, in mir.

Natürlich traf ich nie auf solch einen Patienten, aber die Begegnungen, die ich insbesondere auf der Kinderstation hatte, bestärkten mich noch in meiner Entscheidung, Sozialarbeiter zu werden. Dass ich nun auch in eben jenem Krankenhaus fest als Sozialarbeiter angestellt bin, lag fast schon auf der Hand.

Von weitem sehe ich schon Tante Danas Haus und muss unwillkürlich lächeln. Noch immer sind wir jeden Sonntag zum Essen bei ihr, nur finden die vorherigen Spaziergänge nur noch einmal im Monat statt. Eventuell liegt das auch daran, dass sie nun Oma von Zwillingen ist.

Kitty lernte ihren Mann Sam bei meiner Fahrprüfung kennen. Er hat mich geprüft und als sie gemeinsam mit Finn, Kilian und Dana auf mich wartete, Sekt und Luftschlangen in der Hand, kamen beide ins Gespräch. Er witzelt heute noch, dass er mir den Führerschein nur deshalb gab, damit sie mit ihm auf ein Date ging.

Klara und Kasper sind nun fast fünf und seltsamerweise verbringt Dana meist lieber die Zeit mit den beiden, als mit Finn und mir spazieren zu gehen. Als wir die Einfahrt entlanggehen, wird die Haustür aufgerissen und ein Mädchen, das aussieht wie eine winzige Kitty, kommt auf uns zugerannt.

„Finn! Caleb!", ruft sie begeistert und quasi zeitgleich hocken wir uns hin und breiten die Arme aus. Wir machen uns immer einen Scherz daraus, wen von uns beiden sie lieber mögen, doch Klara läuft einfach in unsere Mitte und zwingt uns so zu einem Gruppenkuscheln.

„Hey Sonnenschein", lache ich und wuschele durch ihre Locken. „Wo ist denn dein Bruder?"
„Der liest mit Betty ein Buch", bekomme ich als Antwort.
Finn und ich werfen uns einen schelmischen Blick zu.
„So, so", grinst Finn. „Kilian hat Betty schon wieder mitgebracht?"
„Ja", flüstert Klara geheimnisvoll. „Und sie haben sich auch geküsst! Sie dachten, keiner hat's gesehen, aber ich hab's gesehen."
Sie kichert hinter ihren Händen und ich drücke sie noch einmal fest an mich. So süß kann nur Klara sein.

„Wir verraten es auch nicht", zwinkert Finn ihr zu und sie tut mit ihren kleinen Fingern so, als würde sie seinen Mund mit einem Schlüssel verschließen.
Blitzschnell löst sie sich wieder von uns und flitzt zurück ins Haus.
„Oma Dana", schreit sie. „Finn und Caleb sind da!"

Ich blicke lachend zu Finn, der wieder meine Hand greift. „Meinst du, wir können uns auch nochmal heimlich küssen, bevor wir in diesen Taubenschlag dort gehen?", frage ich ihn. Finn legt seine weichen Lippen auf meine und blickt mich dann wieder liebevoll an.
„Wir können uns auch unheimlich dort drin noch küssen, aber hier mag ich auch", grinst er.

„Ich hab ganz schön Glück", stelle ich fest.
„Weil ich dich heimlich und auch unheimlich gern küsse?"
„Das und mit allem hier. Es mag seltsam klingen, aber dieses Zugunglück war das Beste, das mir je passieren konnte. Ist das egoistisch von mir?"
Finn streicht mir über die Wange.
„Dann bin ich genauso egoistisch, weil ich es ebenso empfinde. Wie Dana immer sagt: ‚Wer weiß, wofür es gut ist.' Und in diesem Fall war es gut für uns beide, Caleb."

Ich lächele und stehe langsam wieder auf. Finn tut es mir gleich und nickt mit seinem Kopf in Richtung Haus.
„Und jetzt lass uns reingehen, ich will Kilian damit aufziehen, dass er Betty geküsst hat", lacht er.

Ende

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Huch, da war es schon wieder vorbei.
Ich danke jedem von euch, der sich noch einmal in den Finn-Caleb-Zug gesetzt und meine ursprünglich geplante Reise für die beiden mitverfolgt hat und natürlich auch allen anderen, die dieses Buch vielleicht als Erstes lesen, weil sie durch Zufall darauf gestoßen sind und gar nicht wissen, dass es auch eine andere Version gibt.
Danke, danke, danke!

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now