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Im Inneren des Rucksacks erfühle ich ein Buch, eine Packung Taschentücher, einen Kugelschreiber, einen Notizblock und ein Herrenportemonnaie aus Leder. Ich ziehe alle Dinge heraus und lege sie neben mir auf dem Bett ab. Bei dem Buch handelt es sich um ‚Fahrenheidt 451' und entweder hat Finn dieses Buch schon sehr oft gelesen oder er hat es irgendwo gebraucht bekommen, so zerlesen wie die Seiten sind. Ich nehme an, Ersteres ist der Fall. Finn Campbell macht auf mich nicht den Eindruck, dass er Dinge gebraucht kauft.

Der Notizblock ist vollgeschrieben mit allerlei Stichpunkten zu Themen, die ich nicht verstehe. Lerntypen, Lernstrategien, Lernmethoden - irgendwelchen Lehrerkram, nehme ich an. Die Handschrift, in der die Notizen gemacht wurden, ist sauber und ordentlich und für einen Moment frage ich mich, warum er einen schwarzen und keinen roten Stift verwendet hat.

Das Portemonnaie fühlt sich glatt und teuer an und ich bin überrascht, dass es nicht besonders dick ist. Ich finde fünfundvierzig Dollar in Scheinen, etwas Kleingeld und zwei Kreditkarten. Eine VISA und eine schwarze American Express. Ich mag nie reich gewesen sein, aber dass eine schwarze Amex viel Geld bedeutet, weiß sogar ich.

Finn K. Campbell steht in vorgestanzten Buchstaben darauf und ich frage mich unweigerlich, wofür das K steht.

Nach einigem Suchen finde ich einen Ausweis, der mir meine Frage beantwortet.

Name: Finn Kyle Campbell
Geburtsdatum: 25.08.1995 in Doha, Qatar
Staatsbürgerschaft: Amerikaner
Größe: 1.90 m
Augenfarbe: blau

Ich bin in Qatar geboren? Heilige Scheiße! Vielleicht sollte ich den Notizblock dafür nutzen, mir die unzähligen Fragen, die sich in meinem Kopf ansammeln, aufzuschreiben und Kilian und Kitty damit zu löchern.

Außer ein paar Stempelkarten für diverse Restaurants und Caféketten, einer Mitgliedskarte für ein Edelfitnessstudio und eines Organspendeausweises fördert das Portemonnaie nichts weiter zutage, sodass ich beschließe, mich dem Smartphone zu widmen. Ich hatte gehofft, in einem der kleinen Fächer einen Zettel mit dem Pincode zu finden, aber offenbar lebt Finn Campbell sehr sicher und legt keine Pinnummern oder Passwörter in seinem Portemonnaie ab.

Ich nehme also das schwarze Gerät in meine Hand und stelle unwillkürlich fest, dass es fast doppelt so groß wie mein bisheriges Modell ist. Außerdem hat dieses Display keine Risse. An der Seite befindet sich ein länglicher Knopf und als ich diesen drücke, erscheint kurz das Eingabefeld für den Code, dann jedoch entsperrt sich das Smartphone wie auf magische Weise von selbst. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass dieses Telefon wohl neben einem Code auch über eine automatische Gesichtserkennung entsperrt wird und ich mir vollkommen unnötig Gedanken gemacht habe.

Dieser Finn hat gefühlt sechstausend Apps auf seinem Telefon, welche in unzählige Ordner sortiert sind, die die verschiedensten Bezeichnungen tragen. Navigation, Wetter, Nachrichten oder auch Medien und Gesundheit. An dem mit der Bezeichnung ‚Kommunikation' wird eine rote Siebzehn angezeigt, was wohl bedeutet, dass hier siebzehn neue Mitteilungen auf Finn warten. Und da Finn nicht da ist, in diesem Fall wohl auf mich.

Ich tippe auf den Ordner und dann auf den Messenger, der die Nachrichten anzeigt. Der letzte Chat ist mit einem gewissen Christian, wie Kitty bereits prophezeit hat, und ich lese neugierig, was er geschrieben hat:

Christian (RF)

Ich fand den Abend gestern
sehr schön.

Guten Morgen, du hast dich
gar nicht mehr gemeldet.
Bist sicherlich schon
unterwegs nach Boston.
Viel Spaß beim Seminar.

Hey, wie lief das Seminar?
Sehen wir uns heute Abend?

Finn? Ist alles okay?

Finn, in den Nachrichten kam
etwas über ein Zugunglück.
Ich hoffe, du sitzt gerade in
einem Café und nicht in diesem
Zug!

Finn?? Kannst du dich bitte
melden?

Finn!! Ich bin wirklich sehr
besorgt! Melde dich bitte!!

Ich verlasse den Chat und fühle mich schlecht. Ich sehe noch andere Chats mit Personen, die ich natürlich nicht kenne, doch ich werde sie nicht lesen. Es fühlt sich an, als würde ich in Finn Campbells Leben herumstöbern.

Selbst wenn ich in seinem Körper stecke, ist es trotzdem nicht okay seine privaten Unterhaltungen nachzulesen. Ich suche nach der einfachen Telefon-App und erkenne, dass dieser Christian auch versucht hat, anzurufen. Ich wähle den Nummernblock aus und tippe kurzerhand meine eigene Handynummer ein.

Mit dem Handy am Ohr vernehme ich kein Klingeln, sondern direkt meine Mailbox.
„Hi, hier ist Caleb. Ich kann gerade nicht ans Telefon gehen, rufe aber zurück", höre ich meine eigene Stimme und ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.

Ich frage mich, wo mein Telefon mit dem rissigen Display wohl gerade ist. Irgendwo in der hinteren Hosentasche meines leblosen Körpers? In einer Kiste irgendwo in einem Leichenschauhaus? Habe ich gerade die Stimme eines Toten gehört? Meine eigene tote Stimme?

Meine langen Arme, die nicht mal mir gehören, schlingen sich um meinen Oberkörper und das Telefon rutscht mir aus der Hand. Hilflos atme ich ein und aus, während mein Körper vor- und zurückwippt. Ich werde dieser Situation nie entkommen können. Ich weiß weder wie ich hier hineingeraten bin noch ob das alles überhaupt real ist.

Nur vage nehme ich ein Klopfen an der Tür wahr und stöhne gequält. Ich bin gefangen. Gefangen in diesem Körper, in diesem Haus und nichts davon gehört mir. Dünne Arme legen sich um mich und eine weiche Hand streichelt über meine Wange. Ich vernehme Worte und ein leises Summen.

Das Summen beruhigt mich und meine stockende Atmung wird allmählich wieder gleichmäßig. Ich kenne die Melodie nicht, aber der Körper, in dem ich feststecke, scheint sich an sie zu erinnern, denn er entspannt sich und die Panik, die von mir Besitz ergriffen hat, löst ihren kalten Griff. Ich stelle fest, dass Kitty diejenige ist, die mich in ihren Armen hält und summt, ihre Hand streichelnd an meinem Gesicht.

„Danke", krächze ich erstickt und will mich von ihr lösen.
„Hier geblieben", befiehlt sie und lockert ihre Umarmung keineswegs. „Das hat dir früher schon geholfen und das hilft auch jetzt noch."
„Erzählst du mir von früher?", bitte ich und spüre, wie der Körper der Cousine sich für einen Moment anspannt.
„Du weißt nichts mehr, oder?", will sie wissen und ich schüttele meinen Kopf.

„Okay", seufzt sie und streichelt über meinen Kopf. „Aber dann brauche ich noch einen Kaffee."

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now