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„Subtropen?", kommt es fordernd von Finn und ich stöhne hilflos auf.
„Die Subtropen liegen zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Grad nördlicher als die Tropen", zitiere ich brav.
„Vierzig Grad", korrigiert er mich. „Was noch?"
„Sie sind trockener."
„Sehr gut. Was noch?"
„Nichts mehr."
„Doch."
„Was denn?"
„Das frage ich dich, Caleb."

Ich rolle mit den Augen und fahre mit wieder einmal durch seine zersausten Haare. Ich kann verstehen, warum er auf all seinen Fotos so aussieht. Diese Haare machen ohnehin, was sie wollen und man muss ständig darin herumwuseln.

Finn scheint diese Eigenart fast vollständig abgelegt zu haben, nachdem er einmal durch meine glatten, eher starren Haare fuhr und danach vollkommen lächerlich aussah.

„Können wir vielleicht eine Pause machen?", seufze ich. „Mir platzt gleich der Schädel."
„Wir gehen nur noch einmal alles durch und dann bist du für heute erlöst", schlägt er vor. „Du machst das wirklich gut, Caleb."
„Ich weiß nicht", zweifle ich laut. „Ich kann mir nicht vorstellen, Schüler abzufragen oder gar Dinge zu erklären."
„Stell' es dir wie eine einfache Unterhaltung vor", lächelt Finn. „Unterricht muss keine One Man Show sein. Bezieh' die Schüler mit ein, nicht alles musst du erklären, viele Dinge leiten sie sich selbst aus dem Gesprächsverlauf her. Und so bleibt die Information viel besser hängen, als wenn sie alles vorgebetet bekommen."

Ich sehe ihn lange an und muss ebenfalls lächeln. Wenn er so über seinen Beruf redet, leuchten seine - oder in diesem Fall meine - Augen vor Begeisterung und ich bekomme fast Lust, selbst Lehrer zu werden. Aber auch nur fast, denn ich bin mir nach wie vor sicher, dass ich ihn und seinen Ruf gänzlich blamieren werde bei dem Versuch, mich Schülern einer Klassenstufe zu stellen, die ich selbst nie besucht habe.

„Caleb?"
„Was?", zucke ich zusammen.
„Wie nennt man die Subtropen noch?"
„Warme, gemäßigte Zone", antworte ich gelangweilt und lehne mich stöhnend auf dem Sofa zurück. „Was machen wir jetzt? Für Englisch müssen wir nochmal über diese adverbialen Bestimmungen reden, oder?"

„Für heute sind wir fertig, Caleb", lächelt Finn mich an und ich weiche seinem Blick aus. „Ich bin sehr stolz auf dich."
„Pfft", mache ich abwertend. „Du musst sowas nicht sagen."
„Ich weiß, dass ich das nicht muss, aber es ist die Wahrheit. Ich bin wirklich begeistert darüber, wie schnell du dir die ganzen Dinge gemerkt hast", sagt er ehrlich.

„Naja, ich muss dich ja nicht noch mehr blamieren", winke ich ab und stehe auf. Ich fühle mich irgendwie eingesperrt und brauche Luft zum Atmen. „Kann ich noch eine Runde laufen gehen?"
„Du musst mich doch nicht um Erlaubnis dafür bitten, Caleb", kommt es von Finn und er mustert mich nachdenklich.

Statt zu antworten nicke ich nur und gehe nach oben, um mich umzuziehen und kurze Zeit später tragen mich Finns Beine über den Asphalt.

Noch immer beeindruckt es mich, wie leicht mir das Laufen in diesem Körper fällt und ich nehme mir vor, den regelmäßigen Sport beizubehalten. Nicht, dass Finn irgendwann in seinen Körper zurückkommt und sich fragt, was ich eigentlich die ganze Zeit damit angestellt habe.

Wenn Finn in seinen Körper zurückkommt... diese Möglichkeit erscheint mir mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Bald leben wir schon eine Woche zusammen und ja, das mag auf einem Kalender nicht lang wirken, aber wenn man diese Woche im Körper eines völlig Fremden verbringt, der zudem noch im eigenen Körper stets neben einem sitzt, sind sieben Tage eine verdammt lange Zeit.

Meine anfängliche Motivation, eine Lösung für unser Problem zu finden, hat sich in Resignation gewandelt und ich habe das Gefühl, dass es Finn ähnlich geht. Ich weiß, dass er noch weiter zu dem Thema recherchiert hat, seine Google-Suche auf dem Tablet hat es mir verraten, aber seit meinem Wunschbrunnenversuch haben wir nichts weiter in der Richtung unternommen.

So viele Punkte stehen auch nicht mehr auf der Liste, die man noch ausprobieren könnte...

Ich schüttele den Kopf und versuche, meine düsteren Gedanken zu vertreiben. Viel wichtiger ist, dass ich mich, oder vielmehr Finn, morgen nicht blamiere. Die ganze Woche haben wir Dinge für den Unterricht besprochen und wenn ich daran denke, dass das nur für die erste Woche war, wird mir ganz schwindelig. Wird das jetzt immer so sein? Finn paukt mir alles ein, ich gehe in die Schule und täusche pädagogische Kompetenz vor? Oh Gott, ich denke ja schon fast wie er!

Schneller als erwartet bin ich zurück am Haus und stütze die Hände auf den Knien ab. Ich atme tief durch und betrete das Haus. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher und als ich näherkomme, erkenne ich, dass Finn schlafend auf dem Sofa liegt, neben ihm das Tablet. Leise trete ich heran und nehme eine der kuscheligen Decken, die zusammengelegt über der Lehne liegen, um ihn damit zuzudecken.

Als ich das Tablet nehme, um es zur Kommode zu bringen, leuchtet der Bildschirm kurz auf und entsperrt sich dank der automatischen Gesichtserkennung.

Die letzte Google-Suche blickt mir entgegen und ich runzele die Stirn.

selbstverliebt vs. narzisstisch

steht dort.

Ein weiterer Blick über meine Schulter zeigt mir, dass Finn weiterhin schläft und so öffne ich ein privates Fenster im Browser des Tablets und google selbst die Bedeutung des Wortes narzisstisch.

Der Begriff „Narzissmus" bedeutet umgangssprachlich so viel wie Selbstverliebtheit oder Selbstbewunderung. Ein Narzisst ist eine übermäßig stark auf sich selbst bezogene Person mit überschwänglich positivem Selbstbild, was sie zugleich gegenüber negativer Kritik immunisiert.

Schnell schließe ich das Fenster wieder und schaue lange zum schlafenden Finn.

Warum hat er dieses Thema recherchiert? Denkt er so über sich? Denkt er so über mich? Egal, wem von uns beiden er Selbstverliebtheit zuschreibt, der Gedanke verletzt mich ungemein.

Irgendwie hatte ich in den vergangenen Tagen das Gefühl, dass wir uns besser verstehen und die gelegentlichen Zickereien waren mehr scherzhaft als ernst. Ich mag Finn sogar sehr gern, durfte ich feststellen. Aber ob das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht, weiß ich gerade nicht mehr.

Leise verstaue ich das Tablet in der Schublade der Kommode und gehe nach oben ins Gästezimmer, um zu duschen.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now