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Kitty führt mich durch das Obergeschoss und hat einen Heidenspaß daran, mir alles genauestens zu erklären. Ich tue so, als würde ich ihr gespannt zuhören, während ich gleichzeitig vorgebe mich an manche Dinge zu erinnern, aber insgeheim bin ich damit beschäftigt, mir möglichst alles zu merken. Es ist wie die Lüge einer Lüge, wenn man so will.

„Hier ist das Gästezimmer", zeigt sie mir hinter einer der Türen und ich runzele die Stirn.
„Voller Klamotten?", erkundige ich mich. „Und dann auch noch so kleine. Sind die beim Waschen eingelaufen?"
Ein weiterer Knuff in die Seite und Kittys Lachen sind meine Antwort, zusammen mit einem „Jetzt sei nicht so frech, Finn".

Das Badezimmer hier oben ist gigantisch, sogar mit einer Eckbadewanne und einer separaten Dusche ausgestattet, und erst jetzt fällt mir auf, dass es ewig her ist, dass ich entspannt duschen konnte, statt notdürftig mit einem Schwamm gewaschen zu werden. Um genau zu sein, habe ich in diesem Körper sogar noch nie geduscht.

„Hast du hier irgendwas versteckt, weshalb ich mich erschrecken werde oder warum lachst du so, Finn?", will Kitty neben mir wissen und ich winke ab.
„Nein, alles gut", möchte ich das Thema beenden, doch sie betrachtet mich argwöhnisch.
„Wenn du wieder so eine komische Einstellung in deinem Licht hast, das nachts angeht, wenn man nur mal pinkeln muss, muss ich leider heute Abend alle Sicherungen rausdrehen", droht sie.
„Was?", frage ich ahnungslos.

„Haha, Finn", brummt sie und geht weiter zur nächsten Tür. Verwirrt folge ich ihr und frage mich, was sie mit ihrer Bemerkung wohl meinte, doch werde abgelenkt durch das lichtdurchflutete Schlafzimmer, in das sie mich nun führt. Ich sehe nur ein riesiges Bett mit kleinen Nachttischen rechts und links, keinen Schrank, keinen Koffer, aus dem Klamotten quellen, keine schimmelige Tapete, die an den Ecken von der Wand blättert.

„Wow", entkommt es mir und Kitty zwinkert mir zu.
„Du hast deinen Kleiderschrank noch nicht gesehen", verkündet sie und geht zur Wand gegenüber vom Bett. Ich habe keine Ahnung, was an einem Kleiderschrank so besonders sein soll, folge der Cousine jedoch und darf feststellen, dass sie eine Tür öffnet, die nicht in einen Schrank sondern in eine Art Modegeschäft innerhalb des Hauses zu führen scheint.

Ich sehe Regale mit Shirts, Schuhen und Hosen, Kleiderstangen mit Hemden, diversen Jacketts und Lederjacken. Ich brauche keine Preisschilder um zu erkennen, dass das ganze Zeug verdammt teuer sein muss.
„Heilige Scheiße", murmele ich und Kitty neben mir kichert.
„Man könnte fast meinen, du kannst dich wirklich an gar nichts erinnern", sagt sie.
„Ich hab tatsächlich einige Lücken", gebe ich ehrlich zu. Dass Finn Campbells Leben eine einzige Lücke für mich ist, verschweige ich und dann zieht Kitty mich schon wieder mit sich.

„Komm'", ruft sie. „Die anderen fragen sich sicherlich schon, wo du bleibst. Ich habe ihnen gesagt, dass sie alle bis spätestens vier verschwunden sein müssen, damit du dich ausruhen kannst, aber vollkommen verkriechen kannst du dich leider nicht, mein Lieber."
„Aber du bleibst in meiner Nähe?", frage ich verzweifelt und sie dreht sich kurz zu mir um.
„Ich weiche nicht von deiner Seite", schmunzelt sie und ich folge ihr seufzend.

Unten haben sich die Gäste inzwischen auch ins Wohnzimmer verteilt und ich sehe mich hilflos um. Tante Dana, die gern Tante genannt werden will, aber nur Dana für alle ist, drückt mir einen Löffel und eine Schale mit Frikassee in die Hände und ich lächele gequält. Um ihr eine Freude zu machen, esse ich ein wenig von der sämigen Speise, erwische zu meinem Unglück jedoch gleich zwei Kapern und muss gegen einen heftigen Würgereiz ankämpfen.

Gerettet werde ich von einem Mann mit Glatze, der sie in ein Gespräch über das Rezept verwickelt und lasse meine Schale ‚aus Versehen' auf einer Kommode stehen.

„Hey Finn", begrüßt mich eine blonde Frau mit einem etwas zu engen Oberteil. Das Namensschild neben ihrem auffällig weiten Ausschnitt verrät mir, dass sie Sandra heißt.
„Hi.. äh.. Sandra", stammele ich unbeholfen.
„Oh, du kannst dich an mich erinnern", freut sie sich überschwänglich und legt ihre Hand an meinen Oberarm. Mein Blick bleibt daran hängen und ich frage mich, ob Finn es wohl mag, wenn man ihn ungefragt anfasst. Ich jedenfalls finde es grässlich.

„N-Nicht wirklich leider", stottere ich und Kilian kommt mir zu Hilfe. Gott, wo hat dieser Finn diese fantastische Familie her? Ich will sie alle behalten.
„Aber er weiß noch immer, dass er nur auf Jungs abfährt, Sandra", entschuldigt Kilian sich für mich bei ihr und zieht mich von ihr weg.
Sandra schaut sichtlich enttäuscht, glücklicherweise aber nur für einen kurzen Moment, denn dann geht sie zu einem anderen Typen in unserem Alter und legt ihre Hand an seinen Arm.

„Ich hab' doch gesagt, das ist deine Chance Leute loszuwerden, Alter", murmelt Kilian zwischen zusammengebissenen Zähnen und einem aufgesetzten Lächeln neben mir.
„Sorry", brumme ich. „Ich bin echt noch ziemlich groggy und würde einfach nur gern duschen und dann schlafen."

Kilian nickt verständnisvoll und drückt sich kurz von mir weg, bevor er einmal laut auf seinen Fingern pfeift. Alle Menschen in diesem - meinem - Haus unterbrechen augenblicklich ihre Gespräche und schauen erwartungsvoll zu uns. Ich senke verlegen meinen Blick und hoffe, niemand stellt fest, dass ich nicht derjenige bin, für den sie mich alle halten.

„Leute", ruft Kilian aus vollem Halse. „Es war toll, dass ihr alle gekommen seid, aber unser Patient ist noch ganz schön erledigt. Man könnte fast meinen, er wurde von einem Zug überfahren."
Entsetzt reiße ich die Augen auf und starre ihn an, doch sowohl Kilian als auch andere Gäste lachen über seinen makabren Witz.
„Darum wäre es cool, wenn ihr die Geschenke einfach dalasst und nach Hause geht", schließt er seine unkonventionelle Rede und legt brüderlich seinen Arm um meine Schultern.

„Ich schätze.. danke", brumme ich ihn an und er nickt selbstgefällig.
„Kein Ding, Bruder", grinst er stolz. „Das wollte ich schon immer mal machen. Sonst findest du nie ein Ende."
„Erzähle deinem Bruder nicht solche Märchen, Kilian", mischt sich Tante Dana ein, während die anderen vielen Leute nach und nach winken und das Haus verlassen. „Er wollte dir nur zuvorkommen, weil du sonst immer derjenige bist, der die Leute rausschmeißt."

Kilian neben mir streckt seiner Tante die Zunge heraus und erntet von ihr einen drohenden Zeigefinger.
„Ruh' dich bitte aus, mein Junge", lächelt sie. „Und ruf' mich an."
Ich nicke freundlich und lasse mich widerstandslos von ihr umarmen. Sie packt Kilian am Kragen seines Poloshirts und zieht ihn mit sich, während er so tut als würde sie ihn erwürgen. Ich winke ihm lachend mit meinem Mittelfinger hinterher und erkenne in seinen Augen, dass ihn diese Geste trotz der Beleidigung sehr glücklich zu machen scheint.

„So, ich räume auf", sagt Kitty neben mir. „Und du gehst jetzt erst mal duschen."
„Ich kann dir auch-", fange ich an, doch sie schüttelt energisch ihren Lockenkopf.
„Duschen, danach Sofa und wir gucken einen Film. Ab nach oben mit dir!"

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