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Als ich nach unten ins Wohnzimmer komme, hat Finn schon alle möglichen Schulbücher auf dem Couchtisch ausgebreitet.
„Was wird das denn?", frage ich irritiert.
„Nun", entgegnet er. „Da wir gerade mit der Rücktauschsache nicht weiterkommen, müssen wir uns darauf einstellen, dass du meinen Job übernehmen musst."
„Was ist mit den Elektroschocks?", erinnere ich ihn und sein Blick verfinstert sich.
„Keine Elektroschocks, Caleb", schimpft er und ich hebe beschwichtigend die Hände.

„Ich werde versuchen, mich als dein Praktikant auszugeben, aber ob das klappt, weiß ich noch nicht", redet er weiter.
„Weil du zu alt dafür bist?"
„Nein, weil auch so etwas angemeldet werden muss", rollt er mit den Augen. „Ich habe schon eine E-Mail an den Direktor geschrieben und gefragt, aber ich brauche seine Zustimmung."

Ich presse meine Lippen fest aufeinander und ziehe mir eins der Bücher heran, ohne etwas darauf zu antworten.
Offenbar geht es um Geografie, das kann ich aber auch nur erahnen, weil auf dem Buch die Erde abgedruckt ist.
„In der ersten Stunde nach den Ferien mache ich meist eine kleine Wiederholung, damit die Schüler erst einmal wieder in den Stoff zurückfinden", erklärt er. „Ich denke, da können wir schon etwas vorbereiten, damit du gut durch die Stunden kommst."

„Geografische Zonen", murmele ich. „Aha."
„Ich bereite dir alles vor, Fragen und Antwortmöglichkeiten. Den Rest schauen wir uns danach an."
„Antwortmöglichkeiten", wiederhole ich. „Gibt es nicht nur Frage und Antwort? Dann lerne ich das auswendig und wenn jemand etwas anderes sagt  - falsch, das ist dann eine Sechs. Setzen."

Finn blickt mich entsetzt an und ich stelle fest, dass er seine - beziehungsweise meine - Haare heute wirklich gekämmt hat und somit noch mehr nach mir aussieht.

„Auf eine Frage gibt es verschiedene Möglichkeiten der Antwort und wenn eine von ihnen nicht ganz korrekt ist, sollte man den Schüler fragen, was ihn zu dieser Antwort gebracht hat. Der Gedankengang dahinter ist vielleicht gar nicht verkehrt und man kommt in eine konstruktive Diskussion. In jedem Fall gibt es für eine freiwillige Meldung, selbst wenn sie komplett falsch sein sollte, niemals eine schlechte Note", belehrt er mich. „Ich möchte meine Schüler ermutigen, sich zu beteiligen, sich Gedanken zu machen und den Unterricht mitzugestalten. Strafen wirken dagegen und sind definitiv nicht Teil meiner Lehrstrategie."

Betreten sehe ich auf meine Hände und weiß nicht, was ich sagen soll. Stattdessen stehe ich auf und gehe in die Küche.

Finn folgt mir verwirrt und sagt mit vor der Brust verschränkten Armen: „Was habe ich jetzt wieder gesagt, was dir nicht passt?"
„Nichts", erwidere ich und mache mich daran, das Spülbecken mit Wasser zu füllen.
„Dein Ernst, Caleb?", meckert er. „Wir wollten gerade anfangen zu lernen und du wäschst jetzt ab?"
„Du bereitest doch alles vor, damit ich dich nicht blamiere."

Das Wasser ist kochend heiß, doch ich begrüße das Brennen an den Händen und beginne, das Geschirr ins Spülbecken zu stapeln.
„Ich habe eine Spülmaschine, erinnerst du dich?", knurrt er und will mir den Teller, den ich halte, wegnehmen.
„Ja, aber ich weiß nicht, wie man sie bedient", patze ich. „Tut mir leid, dass ich nicht so klug und gebildet bin wie du, Finn. Ich wasche ab, das kann ich zumindest."

Energisch entziehe ich ihm den Teller und beginne, ihn fest mit dem Schwamm zu schrubben.
„Du machst es dir ganz schön leicht, was?", kommt es von Finn. Ich antworte nicht, denn ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Gerade ist hier nichts leicht für mich und ich würde am liebsten durch die Haustür gehen und verschwinden. Vielleicht nehme ich den Wasserkocher und lege ihn mit ins Spülbecken, dann kann ich das mit dem Elektroschock doch direkt ausprobieren.

„Wenn es schwierig wird, läuft man erst mal weg", redet Finn weiter. „Machst du das immer so, Caleb? Hast du deshalb keine Wohnung und kein Geld?"
„Halt die Klappe, Finn", knurre ich bedrohlich und schrubbe noch fester.
„Oh nein", macht er siegessicher. „Ganz bestimmt nicht. Ich habe nämlich recht, oder? Es war alles ganz bequem hier für dich, weil du dich dafür nicht anstrengen musstest. Aber jetzt merkst du, dass es doch gar nicht so leicht ist und dass man etwas dafür tun muss und das wird dir zu viel. Und? Hast du schon darüber nachgedacht, einfach abzuhauen?"

„Du hast keine Ahnung, wovon du da redest", fauche ich. „Du weißt nichts über mich!"
„Das stimmt," zischt er. „Aber ich erkenne einen Loser, wenn ich ihn sehe. Du magst mir nichts erzählt haben, aber ich kann mir auch so denken, was mit dir nicht stimmt. Du rennst weg, wenn es ungemütlich wird. Und dann tust du dir selbst leid und suchst die Schuld bei den anderen. Dabei hast du es dir alles selbst zuzuschreiben."

„Es reicht!", schreie ich und einer der Teller zerschellt auf dem Boden zwischen uns. Wir beide zucken erschrocken zusammen, doch ich zeige wütend mit dem Finger auf ihn. Es ist, als würde ich mich selbst beschimpfen, aber ich lasse alles raus.

„Es ist meine Schuld, dass meine Mutter ihr Geld lieber für Alkohol und Koks ausgegeben hat, statt mir etwas zu essen zu kaufen? Es ist meine Schuld, dass ich ins Kinderheim kam, wo nachts die Schlafsäle abgeschlossen wurden und die kleinen Kinder von den Größeren nur zum Spaß verprügelt wurden? Dass meine einzige Freundin dort an einer Lungenentzündung gestorben ist, weil es hieß, sie würde simulieren? Dass ich in der Schule für jede falsche Antwort eine schlechte Note bekam? Es ist meine Schuld, dass ich bei allen möglichen Jobs ohne Ausbildung nach kurzer Zeit rausgeschmissen werde, weil sie jemand Qualifizierteren finden, der am Ende auch nur ihr Neffe oder irgendwas ist? Dass mein Mitbewohner, statt die Miete zu zahlen, sich lieber Gras kauft?"

Ich bin richtig in Rage und spüre, wie wütende Tränen aus meinen Augen quellen, während mein Gesicht mich geschockt anstarrt.
„Es ist meine Schuld, dass ich plötzlich in diesem Körper - in diesem Leben - aufwache und mir gezeigt wird, dass ich all so etwas nie haben werde? Eine Familie, die mich liebt, obwohl ich manchmal ein arrogantes Arschloch bin, einen Kühlschrank mit Essen und Gott bewahre, ein Haus! Du hast recht, Finn. Ich bin ein Loser. Ich wurde so geboren und egal, was ich tue, es ändert sich nicht. Aber danke, dass du mich nochmal daran erinnert hast."

„Caleb, ich-", beginnt er, doch ich winke ab. Trotzig wische ich mir über die Augen und presse hervor: „Lass' es, ich will es nicht hören."
Ohne ein weiteres Wort verlasse ich das Haus und lasse ihn einfach in seiner Küche in den Scherben, die ich verursacht habe, stehen.

Lügenleben | ✓Where stories live. Discover now