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„Und wie die Blätter zu Boden fielen, so fiel auch ich auf den kalten Stein, der sich anfühlte wie die eiskalte Wahrheit in meinem Herzen."

Gebannt lauschte ich der Stimme von der Autorin, die vorne am Pult stand und bedächtig die nächste Seite aufschlug. Es war mir durchaus bewusst, dass solche Lesungen für die meisten Menschen in meinem Alter nicht gerade als cool galten. Meine Freunde trafen sich lieber in der nächsten Bar auf ein Bier oder kifften im Park. Seit dem Beginn meines Studiums kam ich jedoch regelmäßig in die kleine Buchhandlung, um den Worten von noch unentdeckten Autoren zu lauschen. Der niedliche Laden war für mich wie ein zweites Zuhause geworden, das ich leider bald nicht mehr so häufig besuchen können würde. Ich hatte mein Studium in diesem Semester beendet und meine Abschlussarbeit eingereicht. Der Zweifach-Bachelor in Literatur und Journalismus hatte mir wirklich gut gelegen, Freunde hatte ich aber nur unter den Journalismus-Studenten gefunden. Das lag wahrscheinlich auch nur daran, dass sie sehr offen waren und mich direkt aufgenommen hatten. Ich selbst war zu schüchtern, um auf Leute zuzugehen und zu verschlossen, um auf Anhieb sympathisch zu wirken. Vereinzeltes Klatschen setzte ein und ich bemerkte, wie ich mich mal wieder in meinen Gedanken verloren hatte. Viel zu oft passiert es mir, dass ich in meiner eigenen Welt war, statt in der Realität zu leben. Ich verabschiedete mich von Simon, der nahezu jeden Tag in der Buchhandlung an der Kasse stand. Er lächelte mir lieb zu und sagte: „Bis zum nächsten Mal." Draußen war es wesentlich wärmer als ich dachte und ich zog meine Jacke aus. Ich zog mein Handy aus meiner Tasche und las in der Gruppe unserer WG, dass meine Freunde im Park waren. Also fuhr ich mit meinem Fahrrad durch die Straßen der kleinen Studentenstadt und kettete es an einen dafür vorgesehenen Ständer.

„Lia", rief Jenny schon von Weitem und winkte mir fröhlich zu. Wie immer trug sie bunte Farben und viel zu viel Schmuck. Als ich Jenny zum ersten Mal gesehen habe, hätte ich nie gedacht, dass wir Freunde werden würden. Sie war ein Hippie im besten Sinne und absolut offen für alles. Sofort drückte sie mir eine Bierdose in die Hand und zog an ihrem Joint: „Wie war die Lesung? Wieder Erotikromane?" Dabei wackelte sie grinsend mit den Augenbrauen und ich musste etwas lachen. „Nein", meint ich nur und verdrehte gespielt die Augen. „Hey Lia", sagte jetzt auch Tyler, der lässig auf der Parkbank saß und eine Zigarette zwischen den Lippen hatte. Ich nickte ihm zu und setzte mich zu Mia und ihrem Freund Finn, die in ein Gespräch über den neuesten Klatsch in der Promiwelt vertieft waren. Tyler hielt mir seine Zigarette hin, doch ich schüttelte den Kopf. Manchmal rauchte ich, wenn ich mehr getrunken hatte. Dann passierte es auch, dass ich mit Tyler nach Hause ging und wir miteinander schliefen. Er war ein gutaussehender Kerl, der gerne seinen Spaß hatte. Was ich mir davon versprach, wusste ich nicht, die große Liebe war es jedenfalls nicht. Jenny sagte gerne, dass Tyler für mich war, was für sie das Gras war. Eine Droge, die ich manchmal brauchte, um alles zu vergessen. Jenny schmiss immer gerne mit Metaphern um sich, meistens nickte ich sie nur schmunzelnd ab. Sie tanzte ein bisschen vor der Bank herum und wollte mich dazu motivieren mitzumachen, doch ich schüttelte grinsend den Kopf. Tyler erbarmte sich schließlich und drehte Jenny einige Male im Kreis. Meine Freunde sind wirklich ein Haufen von Irren, dachte ich als mein Handy klingelte. Ich kannte die Nummer nicht, also ging ich einige Schritte von den anderen weg und hob ab.

„Wie jetzt? Ernsthaft?", fragte Mia erstaunt. Das Gespräch mit ihrem Freund war wohl weniger spannend als meine Neuigkeiten. „Ich habe den Job tatsächlich", erwiderte ich breitgrinsend, obwohl ich es selbst gar nicht glauben konnte. Vor einigen Wochen hatte ich mich bei Limax, dem größten Verlag unseres Landes, als Assistentin beworben. Nie hätte ich erwartet, nach dem Vorstellungsgespräch genommen zu werden. Der Verlag war das non plus Ultra der Literaturszene und wer schreiben konnte, wollte dort angenommen werden. „Ich bin so stolz", meinte Jenny und nahm mich fest in ihren Arm. Jenny war wohl das für mich, was am nächsten an eine beste Freundin herankam. Eine richtige beste Freundin hatte ich allerdings nicht mehr, seitdem ich zehn war. „Das Küken wird uns verlassen", sagte Tyler mit seiner tiefen Stimme und strich mir über den Kopf. Er zog mich kurz in eine Umarmung und ich roch seinen vertrauen Geruch nach Aftershave. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie viel Stress vor mir stand. Ich würde in die Großstadt ziehen und mein gewohntes Umfeld verlassen. Alles würde sich ändern, aber vielleicht war das auch meine große Chance.

„Es wurde auch Zeit, dass du mal Glück hast." Meine Mutter stellte mir ein weiteres Stück Erdbeertorte vor die Nase und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Ich war nach Hause gefahren, um meine Neuigkeiten zu verkünden und den Umzug zu planen. Meine Mutter wohnte mit meiner kleinen Schwester immer noch in dem Dorf meiner Kindheit auf dem Land. Ich kam gerne hierher zurück, obwohl es mich auch immer traurig machte. „Vielleicht findest du dann auch endlich einen Freund", murmelte meine Mutter und spielte wie immer auf meine Affären an. Sie pflegte zu sagen, dass meine Kindheit schuld daran war, dass ich keine Beziehungen führen konnte. Erst mein Vater, der uns nach meiner Geburt ohne ein Wort des Abschieds verlassen hatte. Dann meine beste Freundin Maxime, die wie eine Schwester für mich gewesen war, aber an meinem zehnten Geburtstag mit ihren Eltern verschwand und nie zurückkam. Vermutlich lag es daran, dass ich mit Männern nie mehr als Nächte verbrachte und niemandem vertrauen konnte. „Hast du schon eine Wohnung gefunden?", fragte meine Mutter und ich erzählte ihr von der WG, die ich entdeckt hatte. Es war eine kleine, niedliche Wohnung für zwei Personen und meine Mitbewohnerin wirkte sehr nett. „Versprichst du mir, dass du offener bist?", fragte meine Mutter und ich seufzte. Ich wusste, dass sie sich nur Sorgen um mich machte, doch es nervte mich auch. Meine Mutter hatte immer versucht den Fehler meines Vaters irgendwie zu kompensieren und hatte dabei meist viel zu viel für mich getan. „Kommst du dann nicht mehr so oft zu uns?", mischte sich meine Schwester in das Gespräch ein. Sie war mittlerweile 14 und begann sich für Jungen zu interessieren. Meine Mutter hatte sechs Jahre nachdem mein Vater uns verlassen hatte einen neuen Mann kennengelernt und war mit Summer schwanger geworden. Auch wenn Logan nicht mein Vater war, war er mir ans Herz gewachsen. Er war ein guter Vater für Summer und sorgte für meine Mutter. Ich war mittlerweile 24 und ziemlich sicher, dass mich meine Kindheitstraumata nicht mehr verfolgten. Trotzdem sollte die neue Stadt eine Chance für mich sein, die ich nutzen wollte. „Ich werde dich schon nicht ganz allein lassen", meinte ich zu Summer, die nur nickte. Dann zückte sie ihr Handy und lief die Treppen hoch, um mit irgendwem zu telefonieren. Ich schaute meine Mutter an und grinste: „Hat sie einen Freund?" Sie zuckte nur die Achseln und begann den Tisch abzuräumen: „Deine Schwester redet doch nicht mit mir über so etwas. Bring du erstmal einen Mann mit heim, dann reden wir weiter." Ich verdrehte nur die Augen und half meiner Mutter mit dem Geschirr. Als Logan abends von der Arbeit kam besprach ich den Umzug mit ihm und er erklärte sich sofort bereit, mir zu helfen.

„So, ich denke das war alles, oder?", fragte mein Stiefvater und wischte sich den Schweiß von seiner Stirn. Die besten Jahre waren bei Logan schon vorbei und die wenigen Haare, die er noch hatte, waren grau bis weiß. Auch seine Statur war nicht mehr so sportlich, obwohl er immer noch in unserem Heimatort bei den Senioren Fußball spielte. Ich nickte als Antwort und er schlug sich den Staub von den Klamotten. Er fummelte den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche und blickte mich dann an. Eindeutig war er sich unsicher, wie er sich von mir verabschieden sollte. Ich nahm ihm die Entscheidung ab, indem ich meine Arme um seinen Hals schlang und mich kurz an ihn drückte. „Danke", flüsterte ich und er brummte tief als Antwort. Als er zum Umzugswagen lief, grinste er mir nochmal zu und seine Grübchen kamen zum Vorschein. Mich von ihm zu verabschieden war fast noch schwerer als bei meiner Mutter und Schwester. Denn jetzt bemerkte ich, dass dieser Neuanfang wirklich endgültig war. Ich lief die Treppen hoch zu meiner neuen Wohnung und musterte die Einrichtung, die ich mit Logan vorgenommen hatte. Meine Mitbewohnerin hatte ich bisher noch nicht getroffen, doch sie wirkte ziemlich chaotisch. Die Küche war voll mit exotischen Gewürzen und Gemüse, an ihrer Zimmertür hing ein Poster einer Indie-Rockband.

Ich beschloss mich noch etwas hinzulegen, weil ich wirklich erschöpft war.

Show me your dark linesWhere stories live. Discover now