10.

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Die ganze Nacht hatte ich wach gelegen und meine Gedanken hatten sich ständig im Kreis gedreht. Sie war meine Chefin, ich durfte sie nicht attraktiv finden und erst recht nicht küssen. Gleichzeitig war das ganze von ihr ausgegangen und ich konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie mich angesehen hatte. Sie hatte mir tief in mein Herz gesehen und ich hatte mich seit Ewigkeiten mal wieder geborgen gefühlt. Es war als würde ich sie schon viel länger als ein paar Wochen kennen.

Diesmal dachte ich an den Kaffee und kam auch pünktlich im Büro an. Ich stellte den Becher auf den Tisch von Miss King und ging ihrem Blick aus dem Weg. Sie sagte zum Glück nichts, sodass ich mich wieder entfernen konnte. Generell wirkte sie wieder professioneller als gestern und ließ sich nichts anmerken. Ich setzte mich an meinen neuen Laptop und dachte nach. Stundenlang saß ich da und bekam keine zwei Zeilen aufs Papier. Was war bloß plötzlich los mit mir? Wie konnte mich dieser Kuss so sehr durcheinander bringen? Am Abend kam Miss King aus ihrem Büro und stellte sich vor meinen Schreibtisch. „Wie kommst du voran?" Sie überlegte kurz und schob dann „Holly" hinterher. Ich konnte nicht anders als kurz zu schmunzeln, sie versuchte wirklich weiter meinen Namen zu erraten. „Schlecht und nein", antwortete ich und sie nickte wissend. Sie zeigte auf den Fahrstuhl und meinte: „Dach." Ich seufzte und wollte ihr folgen, doch sie ging gar nicht vor. Sie merkte meine Verunsicherung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich merke, dass meine Anwesenheit dich verunsichert, also lasse ich dir Freiraum. Geh hoch, es wird dir helfen." Ich nickte und hätte gerne irgendetwas gesagt, wusste aber nicht was. Ich wusste in mir drin genau, dass ich keinen Abstand von ihr wollte. Mein Körper wollte ihr am liebsten um den Hals fallen und Fantasien mit ihr ausleben, die sich in den letzten Tagen häufig in meinen Kopf geschlichen hatten. Mein Verstand sagte mir aber, dass ich mich einfach von ihr fernhalten sollte. Also ging ich zum Fahrstuhl und blieb für einige Stunden auf dem Dach, bis die Sonne längst untergegangen war. Als ich meine Sachen schließlich von meinem Schreibtisch holte, brannte immer noch Licht im Büro meiner Chefin. Es erinnerte mich daran, wie sie an dem einen Abend auf dem Boden gesessen hatte. Wieder packte mich die Neugierde und ich öffnete vorsichtig die Tür. Miss King stand diesmal vor dem Whiteboard und schien völlig in ihrem Element zu sein. Ständig schrieb sie neue Wörter und Sätze auf, strich sie wieder durch oder verband Gedanken miteinander. Ich sah mir an, was sie schrieb, weil sie mich sowieso nicht bemerkte.

„Ich denke, da fehlt noch ein Aufhänger", meinte ich nach einer Weile. Meine Chefin zuckte zusammen, sie hatte mich wirklich nicht bemerkt. „Du bist immer noch hier?", fragte sie verblüfft, als sie sich etwas gefangen hatte. Ich zuckte die Achseln und meinte: „Sie sind ja scheinbar nie zuhause." Sie zog eine Augenbraue hoch, doch ich wich ihrem Blick aus und schnappte mir einen Stift. Schnell schrieb ich eine Idee an das Board und sie ergänzte sie. So ging es einige Zeit weiter und irgendwann waren wir in einer hitzigen Diskussion über das gesamte Werk. Wir trieben uns gegenseitig an und kamen so auf immer bessere Einfälle. Irgendwann sah sie mich an und grinste: „Wie ist Dana?" Ich schüttelte wie immer den Kopf und meinte: „Da muss ich Sie leider enttäuschen." Sie kam einen Schritt auf mich zu und ihre Augen wurden etwas dunkler. „Du musst mich nicht siezen, wenn wir allein sind", meinte sie und ich runzelte verwirrt die Stirn. Nie war mir in den Sinn gekommen, sie zu duzen. Dafür war sie viel zu autoritär und respekteinflößend. Sie lachte leicht über meinen Gesichtsausdruck und fragte: „Was denkst du, ab wann Leute mich duzen?" Ich zuckte nur unbeholfen die Achseln und meinte: „Ich weiß es nicht, Miss King." Vermutlich war mir innerlich klar, dass sie nicht jede Person auf der Straße küsste, aber ich wollte mir nicht einbilden, dass ich ihr irgendetwas bedeutete. Sie kam noch einen Schritt auf mich zu und blickte herab in meine Augen. Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie strich mir eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. „Vanessa", hauchte sie mir zu und ihre Augen schienen wie immer, in mich hinein sehen zu können. In meinem Bauch kribbelte es und ich spürte, wie sich erneut Spannung zwischen uns aufbaute. Keine Ahnung, was diese Frau an sich hatte, das mich so sehr anzog. Vielleicht war es ihre unglaubliche Ausstrahlung und die pure Selbstsicherheit, die sie nach außen trug. Vielleicht war es auch ihr schönes Gesicht mit den perfekten Zügen, in denen man so gut sehen konnte, wie jung sie noch war. Vielleicht waren es aber auch ihre Augen, die mich jedes Mal so ansahen, als könnten sie mehr in mir sehen. Zum Glück löste meine Chefin den Augenkontakt und zog einen kleinen Ausweis aus ihrer Hosentasche. „Den wollte ich dir schon heute Morgen geben." Ich betrachtete das kleine Dokument, es machte mich offiziell zu einem Autor bei Limax. „Dann bekommst du ab jetzt auch einen Kaffee", meinte sie und grinste leicht dabei. Ich lächelte und musste daran denken, wie sehr meine Mutter sich freuen würde, wenn ich es ihr erzählen würde. „Jetzt geh schon endlich heim, ich bezahle die Überstunden eh nicht", hörte ich Miss King, Vanessa sagen, als sie an ihrem Schreibtisch herumkramte. Ich nickte schnell und meinte: „Bis morgen... und danke." Sie drehte sich nochmal zu mir und schenkte mir ein Lächeln, das ich zuvor nie bei ihr gesehen hatte. Es verlieh ihrem Gesicht einen warmen Ausdruck und ich spürte in mir den Drang, sie zu berühren.

Schnell drehte ich mich um und lief aus der Tür, um die Gedanken loszuwerden.

Show me your dark linesDonde viven las historias. Descúbrelo ahora