40.

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Ein Kissen in meinem Gesicht riss mich unsanft aus meinen Träumen.

„Ey", stöhnte ich genervt auf. „Ich habe es ewig nett versucht, aber du schläfst wie ein Stein", hörte ich Vanessa lachend sagen. Ich blinzelte ein paar Mal und schaute müde auf den Wecker, der gerade mal fünf Uhr anzeigte. „Du kannst auch noch länger schlafen, aber dann musst du allein zum Verlag fahren." Ich seufzte müde und rieb mir die Augen. Dann quälte ich mich aus dem Bett und trottete an Vanessa vorbei. Sie grinste, drückte mir einen Kuss auf die Wange und hauchte: „Das ist mein Mädchen." Kurze Zeit später kamen wir im Verlag an und schnell merkte ich, warum Vanessa immer so früh hier war. Die Ruhe, bevor alle Angestellten zur Arbeit kamen, war angenehm und ich war nach dem ersten Kaffee hochkonzentriert. Wir schafften viel zusammen und Vanessa verließ mein Büro erst, als es auf den Fluren lauter wurde. „Ich muss diese Woche zu einigen Lesungen, aber am Wochenende können wir Zeit miteinander verbringen", meinte sie noch und lächelte mir lieb zu. Als sie weg war, vibrierte mein Handy und es war eine Nachricht von meiner Schwester. Meine Hände fingen sofort an zu schwitzen, weil ich an meine Mutter denken musste. Ich würde mich vor ihr outen müssen und wohl oder übel würde sie kapieren, dass ich mich in meine ehemalige Chefin verliebt hatte. Meine Mutter war zwar niemand, der etwas gegen Homosexuelle hatte, trotzdem hatte sie eine konservative Erziehung genossen.

Abends sprach ich mit Kayla über die letzten Tage und sie war völlig perplex. „Sie hat dir ihre Liebe gestanden und du erzählst mir das ernsthaft erst jetzt?", fragte sie empört, doch mit einem Lächeln in der Stimme. Ich hob entschuldigend die Arme und meinte: „Es ist alles so kompliziert." Sie schüttelte lächelnd den Kopf: „Also ich hätte nie gedacht, dass du mal die coolere von uns beiden sein würdest." Ich lachte und schlug ihr gegen den Arm: „Du Arsch." Gleichzeitig hatte sie natürlich vollkommen recht, so etwas hätte ich früher niemals gemacht. Kayla schlug mir vor, dass ich Vanessa am Wochenende mit zu meiner Familie nehmen sollte, um sie ihnen vorzustellen. Die Idee war gut, aber ich wusste auch, dass es seltsam werden würde. Nicht nur, weil meine Mutter Vanessa längst kannte, lediglich unter einem anderen Namen. Der Fakt, dass ich sie als meine feste Freundin vorstellen müsste, machte mich nervös. Ich würde die nächsten Tage Zeit haben, darüber nachzudenken, da ich Vanessa nicht sehen würde. Die Ruhe an meinem nächsten Arbeitstag wurde jedoch schon früh morgens gestört. Rosie kam in mein Büro und sah ziemlich zerknirscht aus. „Hey, ich will dich nicht stören, aber ich denke du solltest das sehen", sagte sie, kam zu meinem Bildschirm und rief eine Internetseite auf. Es war ein Artikel einer großen Zeitung mit einem Interview. Ich spannte meinen Kiefer an, es war ein Interview mit Jason Green. Darin erzählte er die „wirklich wahre" Geschichte über mich. Er enthüllte, dass ich die Assistentin gewesen war, die Vanessa auf dem Audio ansprach. Ich hätte den einfachen Weg genutzt, um an die Spitze des Verlages zu gelangen. Wut stieg in mir auf, dieser Kerl war einfach unfassbar. Ich ballte meine Faust: „Fuck." Rosie seufzte neben mir: „Ich weiß, wie es wirklich war, aber das wissen die meisten nicht. Ich kann dir nicht versichern, dass der Verlag euch unterstützt." Ich nickte frustriert, ganz sicher würden viele diese Situation nicht tolerieren. Wie sollte ich irgendwem klar machen, dass es ganz anders war? Die Geschichte von mir als eingeschleuste Chefin, die sich als Assistentin ausgibt, hatten die meisten nur mit gutem Willen akzeptiert. Jetzt würden die meisten genau die Bestätigung im Artikel finden, die ihnen gefehlt hatte. Alle würden denken, ich hätte mich hochgeschlafen und Vanessa hätte es zugelassen. Ich spürte, wie Angst in mir aufkam, dass Leute mich verurteilen würden. Die größte Angst in mir war aber deutlich, dass Vanessa ihre Meinung zu uns ändern würde. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, ich wollte sie nicht wieder verlieren. „Danke, Rosie", murmelte ich und versuchte meine Tränen herunterzuschlucken. Die Sekretärin nickte und erkannte meinen Zustand, sodass sie mich allein ließ. Ich versuchte Vanessa anzurufen, doch sie hob nicht ab. Sie war sicherlich gerade schon unterwegs und hatte keine Zeit. Immer und immer wieder las ich die Worte von Jason und verzweifelte dabei. Ich rief Richard zu mir, der für unsere Statistiken zuständig war. Er zeigte mir, wie unsere Zahlen waren und es erleichterte mich etwas. Allerdings verunsicherte mich, dass er mich während unseres Gespräches mehrmals musterte. Ich schickte ihn wieder weg und überlegte, ob ich in meiner Pause mit den anderen zu Mittag essen sollte. Ich beschloss, dass es das Beste war, einfach wie vorher weiterzumachen. Also setzte ich mich zu den anderen in den Pausenraum und Ben redete auch sofort mit mir. Julia saß allerdings nicht bei uns, sondern mit ein paar anderen an einem Tisch weiter von uns entfernt. Hin und wieder fing ich ihren Blick auf, der etwas zwischen skeptisch und feindselig war. Ben bemerkte meine Unsicherheit und meinte: „Ich glaube nicht, was in dem Artikel steht. Und selbst wenn, dann hättest du meinen größten Respekt." Ich lächelte ihn dankbar an und er zwinkerte mir zu. Die anderen schienen jedoch eindeutig, jedes Wort von Jason zu glauben. Als die Gruppe um Julia aufstand, stellte ich mich kurzerhand in ihren Weg. „Eure Fristen sind schon überschritten. Ich würde euch bitten, die Skripte bis heute Abend einzureichen", versuchte ich möglichst nett und trotzdem bestimmt zu sagen. Ich war im Chefsein einfach eine absolute Niete. Julias Augen glänzten angriffslustig, sie wusste, dass ich mich nicht über sie stellen wollte. In den letzten Wochen hatte ich mich oft an sie gewandt, wenn ich überfordert gewesen war. Im Nachhinein war das wohl ein ziemlich großer Fehler gewesen. „Wir lassen uns nichts über unsere Arbeit sagen, wo du selbst am wenigsten davon verstehst", zischte sie und ein Schauer kroch über meinen Rücken. Ich schluckte und hielt ihrem Blick stand, ich durfte jetzt nicht einknicken. Ich hatte die Macht, auch wenn keiner von ihnen Respekt vor mir hatte. „Ich habe es nett versucht", sagte ich und man hörte deutlich das Zittern in meiner Stimme. Julias Augen leuchteten siegessicher und sie meinte abfällig: „Da bin ich mir sicher." In diesem Moment kapierte ich, dass sie genau wusste, dass Vanessa nicht im Haus war. Es würde niemanden geben, der mich verteidigte. Wie hatte ich denken können, dass ich einfach mal so Chefin eines Unternehmens sein könnte? Meine Hand, die ich zur Faust geballt hatte, fing an zu Zittern. Als ich kurz davor war, einfach wegzulaufen, stellte Ben sich plötzlich vor mir. „Lass es, Julia", sagte er fest und bäumte sich vor seiner Kollegin auf. Diese schien völlig verdutzt von seiner Aktion und riss die Augen auf. „Du verteidigst sie nicht ernsthaft?", fragte sie. „Glaubt ihr eigentlich alles, was euch erzählt wird? Denkt ihr wirklich Vanessa King würde ihren Verlag für eine Assistentin wegwerfen, wenn nicht mehr dahinterstecken würde? Wisst ihr überhaupt noch für wen ihr arbeitet?", sagte Ben mit lauter Stimme und mit einem Mal herrschte Totenstille im Raum. Bens Worte erreichten seine Kolleginnen und auch mich. Ein Teil von mir hätte die Situation kaum besser erklären können, doch ein anderer wusste auch, wie erbärmlich diese Wahrheit war. Vanessa würde ihren Verlag niemals für mich aufgeben. Mir war klar, dass Ben seine Worte anders gemeint hatte, doch es stimmte. Ich war vielleicht mehr als eine Assistentin, aber ich war nicht mehr wert als ihr Lebenswerk, das gerade einzustürzen drohte. Julias Blick traf meinen und nach einigen Sekunden seufzte sie. Dann drängelte sie sich an Ben vorbei aus dem Raum und die anderen folgten ihr. Erst als alle außer Ben weg waren, atmete ich erleichtert aus. „Danke", sagte ich und Ben nickte mir zu. Die nächsten Tage würden hart werden, da war ich mir sicher.

Vanessa war in diesen Dingen so viel besser als ich. Niemals hätte sich jemand getraut, sie so anzugehen.

Show me your dark linesWhere stories live. Discover now