4.

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Die nächste Woche sah ich Vanessa King nicht oft und es war mir ganz recht so.

An einem Abend vergaß ich meinen Schlüssel in der Firma und musste nach Feierabend nochmal zurück. Rosie war zum Glück noch da und ließ mich herein. Mit schnellen Schritten lief ich die Treppen hinauf zu meinem Schreibtisch und fand meinen Schlüssel schnell. Erleichtert griff ich nach ihm, als ich ein lautes Geräusch aus dem Büro meiner Chefin hörte. Ich zögerte und überlegte, ob ich einfach gehen sollte. Einige Sekunden stand ich nur so da, dann seufzte ich und trat an die Tür. Ich klopfte, doch niemand reagierte. Kurz überlegte ich doch zu gehen, dann überkam mich aber die Neugierde. Vorsichtig öffnete ich die Tür und war ziemlich überrascht von dem Anblick, der sich mir bot. Überall auf dem Boden lagen Blätter und Akten kreuz und quer verteilt. Inmitten des Chaos saß Miss King auf dem Boden und sah ausnahmsweise nicht perfekt aus. Ihr Dutt war ziemlich zerstört und sie hatte ihre Uhr und ein Armband abgelegt. Als ich einen Schritt auf sie zutrat, bemerkte sie mich und stand sofort auf. Ich war mir sicher, dass sie mich herunterputzen würde, doch sie sagte gar nichts. Stattdessen blickte sie mir zum ersten Mal, seitdem ich sie kannte wirklich in die Augen. Ihr Blick war einnehmend und tief, ihre grünen Pupillen wirkten wie ein Meer aus Blättern. Es war erstaunlich, dass mich ihr Ausdruck nicht unsicher machte, sondern eher vertraut wirkte. In ihren Augen konnte ich lesen, dass sie in meinen Augen ebenfalls etwas sah.

„Ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist", flüsterte ich. Sofort brach sie den Blickkontakt zwischen uns ab und fuhr sich über ihr Gesicht. „Ja, danke. Sie können gehen." Ich mustere das Chaos in ihrem Büro und erkannte am Whiteboard ihr Problem. Sie suchte für einen Roman einen Namen und schien daran zu verzweifeln. Mir fiel tatsächlich sofort ein Name ein, doch ich erinnerte mich an ihre Worte. Ich war nicht in der Position irgendetwas beizutragen, also nickte ich nur und verließ ihr Büro. Auf dem Heimweg hatte ich immer noch ihre Augen im Kopf und sah noch vor mir, wie sie auf dem Boden saß. Vielleicht steckte mehr in Vanessa King, als ich zunächst gedacht hatte.

An diesem Wochenende besuchte ich eine Lesung in einem kleinen Café in der Innenstadt. Es gefiel mir sehr gut und erinnerte mich an meine Lieblingsbuchhandlung. Ich schrieb Jenny und wir telefonierten ein paar Stunden miteinander. In der nächsten Woche stand eine Gala an und ich war jetzt schon aufgeregt. Die Firma hatte mir ein Kleid gestellt, das wahrscheinlich teurer als mein ganzer Kleiderschrank war. Es hatte einen schönen dunkelgrünen Ton und edlen Stoff, der sich an meiner Haut wunderschön anfühlte. Meine Mutter war hellauf begeistert, als ich ihr ein Bild von mir schickte. Ich wurde zuhause von einem Fahrer abgeholt und vor dem Hotel abgesetzt, in dem die Gala stattfand. Zum Glück waren noch nicht viele Gäste da, sodass ich meine Chefin schnell fand. Letztendlich war sie jedoch auch nicht zu übersehen mit ihrem edlen Hosenanzug, der ihr perfekt zugeschnitten war. Sie trug höhere Schuhe als sonst und war dadurch noch größer, sodass ich zu ihr aufsehen musste. Als sie mich bemerkte, warf sie mir nur einen kurzen Blick zu. Nachdem sie kurz auf ihr Handy gesehen hatte, sah sie mich allerdings erneut an. Sie musterte mich von oben bis unten und ich bildete mir ein, ein kleines Lächeln auf ihren Lippen erkennen zu können. Sie sah mir in die Augen und ich erwiderte ihren Blick. Seltsamerweise fiel es mir leichter in ihrer Nähe zu sein, wenn ich Blickkontakt zu ihr hatte. „Sie sind wie immer zu spät", meinte Miss King und ihr Blick wurde etwas strenger. Trotzdem flackerte in ihren Augen noch etwas anderes, dass die Schärfe aus der Aussage nahm. „Ich wollte Sie nicht warten lassen", entschuldigte ich mich und sie musterte mich kurz. „Es hat sich gelohnt", meinte sie dann und kurz blieb ihr Blick an meinem Ausschnitt hängen. Meine Wangen begannen sofort zu glühen, flirtete sie gerade mit mir? Das musste ich mir einfach einbilden. Zum Glück wendete sie sich von mir ab und redete mit einigen Leuten. Was war das gerade gewesen? Ich spürte mein Herz in meiner Brust rasen, diese Frau verwirrte mich. Irgendetwas an ihrem Verhalten machte mich auch wütend, weil sie so selbstsicher und von sich überzeugt war. Es machte mich sauer, dass ich selbst so unsicher war.

Im Laufe des Abends machten sich viele Leute an Miss King heran und alle schmierten ihr Honig ums Maul. Einige Männer sprachen auch direkt mit mir, einer fasste mir dabei sogar an die Hüfte. Ich fühlte mich dabei nicht wirklich wohl, doch ich war nicht in der Stellung, etwas zu sagen. „Sie sehen wirklich wunderschön aus", säuselte er mir ins Ohr und sein Atem roch nach teurem Whiskey. Ich spannte mich noch mehr an und wollte schon etwas sagen, als eine Stimme neben mir ertönte: „Ich brauche meine Assistentin." Ausnahmsweise war ich sehr froh, dass Miss King Arbeit für mich hatte. Ich folgte ihr durch den Raum bis zum Sektstand. „Was brauchen Sie?", fragte ich, doch sie reichte mir ein Sektglas. „Nichts, aber Sie sind nicht zum Flirten hier", meinte sie mit strengem Unterton. Gleichzeitig wanderte ihr Blick zum zweiten Mal an diesem Abend an meinem Körper herunter. Es war nicht unangenehm von ihr angesehen zu werden, doch es verwirrte mich unheimlich und machte mich nervös. „Was macht man sonst auf diesen Galas?", hörte ich mich fragen und bereute es sofort. Miss King wirkte kurz überrascht, schmunzelte dann jedoch. Es war das erste Mal, dass ich ihr Gesicht nicht ernst sah und ich mochte es. Ohne auf meine Frage einzugehen, meinte sie: „Ich hätte nicht gedacht, dass das Kleid so perfekt sitzt." Wieder betrachtete sie mich und ich war wieder verblüfft mit welcher Selbstverständlichkeit sie das tat. Gleichzeitig fragte ich mich, ob sie selbst das Kleid für mich ausgewählt hatte. Ich trank etwas von dem Sekt und schmeckte sofort, wie edel er sein musste. „Darf ich überhaupt etwas davon trinken?", fragte ich und fühlte mich danach total dämlich. Vanessa King war so schon arrogant genug, wieso zeigte ich meine Unsicherheit auch noch so deutlich. „Sie gehören zu mir, niemand von den Leuten hier kann Ihnen etwas anhaben", meinte sie und ihr Blick ruhte auf meinen Augen. Irgendetwas in mir dachte, niemand außer Ihnen. Ihr Blick war so intensiv, dass ich drohte, mich in ihren Augen zu verlieren. „Miss King, ich habe Sie schon gesucht", zerstörte ein älterer Mann die Spannung zwischen uns und ich blickte auf mein Sektglas.

Den restlichen Abend wechselte ich kein Wort mehr mit meiner Chefin und war auch froh darüber.

Show me your dark linesWhere stories live. Discover now