43.

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POV Vanessa

Ich war froh als der Wagen mich in der Garage meines Verlages absetzte. Die Außentermine waren wichtig für das Unternehmen, aber ich war schon immer lieber in meinem Gebäude gewesen. Außerdem war Lia im Moment die einzige Person, die meine Tage leichter machte und auf die ich mich wirklich freute. Ich überlegte, ob ich direkt nach ihr sehen sollte, beschloss dann aber erst alles fertig zu machen. Also lief ich zu meinem Büro, wo meine Assistentin schon auf mich wartete. Ich nahm sie selten mit zu meinen Terminen. Sie war vielleicht organisierter als es Lia gewesen war, allerdings auch nicht halb so talentiert. „Sie können nach Hause gehen", meinte ich zu ihr, um sie daran zu hindern, mich voll zu quatschen. Normalerweise versuchte ich netter zu meinen Angestellten zu sein, aber sie war einfach nervig. Zumindest hatte sie großen Respekt vor mir, weshalb sie sofort tat, was ich sagte. Ich ging in mein Büro und suchte ein paar Blätter zusammen als ein Stück Papier auf den Boden fiel. Als ich es aufhob, runzelte ich verwirrt die Stirn, es war ein Brief. Schon nach den ersten Zeilen verkrampfte sich mein Herz und meine Hand fing an zu zittern.

Liebe Vanessa,

ich weiß, dass es nicht fair ist, mich so zu verabschieden. Es ist feige, aber ich weiß, dass ich es nur so schaffe zu gehen. Wir beide wissen, dass du mich nicht gehen lassen würdest.

Ich las nicht weiter, sondern stürmte aus meinem Büro an meiner überraschten Assistentin vorbei zu den Treppen. „Wo ist sie?", fragte ich Rosie außer Atem, als ich bei ihrem Pult ankam. „Lia? Sie ist schon heute Morgen gegangen", erwiderte sie und musterte mich. „Ist alles okay?", fragte sie besorgt, doch ich konnte jetzt nicht mit ihr reden. Schnell lief ich die Treppen wieder hoch und wurde dabei von einigen Angestellten verwundert angesehen. Ich ignorierte die Blicke einfach und rannte den Flur entlang bis zu Lias Büro. Als ich die Tür aufriss, fand ich das, was ich erwartet hatte. Leere. Das Büro sah aus, als wäre es nie benutzt worden. Mein Herz raste in meiner Brust und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich ließ mich auf den Stuhl sinken und blickte auf das Papier in meiner Hand.

Ich weiß, dass du denkst, dass du ohne mich nicht dort ständest, wo du stehst. Doch das ist nicht wahr. Ich war es nie, die dich ausgemacht hat. Du hast diese Welt geschaffen, dieses Meisterwerk eines Unternehmens. Die Geschichten, die du erschaffst, müssen weiterleben. Vielleicht muss unsere Geschichte dafür hier enden. Der Verlag ist dein Leben und ich kann dir nicht dein Leben nehmen. Danke, dass du mir gezeigt hast, was es bedeutet, einen Menschen mit Haut und Herz zu lieben. Du hast mir in meinem Leben so viel Freude geschenkt und es zerreißt mir mein Herz, dich zu verlassen. Ich liebe dich, seit ich denken kann, Vanessa. Ich liebe dich mehr als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich liebe dich und ich gebe dich frei. Denn du hast es verdient, glücklich zu sein. Du bist zum Schreiben geboren und ich weiß, du wirst Geschichte schreiben.

Lia

Mir wurde schlecht und Tränen standen in meinen Augen. Sie hatte mich verlassen. Ich war allein. Meine Knie zitterten und ich las wieder und wieder die Zeilen. Irgendwann ließ ich den Zettel sinken und sah die hellere Stelle meines Fingers, an der sonst immer der Ring meiner Mutter gewesen war. Mit einem Mal baute sich ungeheure Wut in mir auf, die ich seit langem nicht mehr gespürt hatte. Ich hatte ihn für sie abgenommen, weil ich ihr vertraut hatte. Ich hatte nach so langer Zeit, endlich wieder jemanden an mich herangelassen. Mein Atem beschleunigte sich und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Sie hatte mich genauso verlassen wie jeder andere zuvor. Sie hatte mich genauso behandelt wie jeder andere und ich hatte sie an mich herangelassen, weil ich schwach geworden war. Wie von selbst griff meine Hand nach einer der Vasen, die auf dem leeren Regal standen und schlug sie auf dem Schreibtisch kaputt. Ich schubste den Tisch so fest, dass er umfiel und mit einem lauten Aufprall vermutlich tausende Macken in den Boden rammte. Als ich nach dem Regal greifen wollte, zogen mich plötzlich zwei Hände an meinen Armen zurück. „Was machst du da?", hörte ich Rosie panisch sagen. Ich versuchte kurz, mich gegen ihren Griff zu wehren, doch als sie sich vor mich stellte, sackten meine Schultern in sich zusammen. Ihr besorgter Blick gab mir den Rest und Tränen schossen in meine Augen. „Ich.. sie..", stotterte ich und Rosie schien auch ohne Worte zu verstehen, was los war. Sie zog mich in ihre Arme und sofort rannen Tränen über meine Wangen. „Ich hasse sie", schluchzte ich und krallte mich in die Bluse meiner vermutlich einzigen Freundin auf dieser Welt. Rosie strich mir behutsam über den Rücken und flüsterte: „Ich weiß."

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