6.

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Am Wochenende fuhr ich zu meiner Familie und verbrachte Zeit mit meiner kleinen Schwester. Auf einem Dorffest sah ich meine alten Bekannten wieder und es war schön mal wieder Gespräche über Bauernhöfe zu hören. Hier war alles entspannter und ich musste mir keine Gedanken über meine Arbeit machen. Allein meine Mutter strengte mich mit ihren ständigen Fragen nach meinem Liebesleben an. „Lass das Kind in Frieden", versuchte Logan mir zu helfen, während er sich eine Zigarette anzündete. Er nahm einen genüsslichen Zug und tätschelte freundschaftlich meine Schulter. Ich lächelte ihn dankbar an und war froh, dem Thema aus dem Weg zu gehen. Ich hatte sowieso keine Zeit, um in der Stadt jemanden kennenzulernen. Selbst am Wochenende waren oft Events von der Firma, auf die ich Miss King immer begleiten musste. Ich wurde dafür fast immer von der Firma eingekleidet und ein Kleid war schöner als das andere. Hin und wieder merkte ich noch, wie meine Chefin mich musterte und einmal erahnte ich auch ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen. Sonst zeigte sie allerdings nicht mehr den Hauch von Zuneigung vor mir. Sie behandelte mich professionell, aber nicht mehr so sehr von oben herab wie zu Beginn. „Du wirkst die ganze Zeit, als wärst du mit deinen Gedanken wo anders", ertönte die Stimme meiner Schwester vor mir und ich zuckte zusammen. Ich lächelte sie entschuldigend an und meinte: „Die Arbeit ist einfach echt anstrengend, aber sie macht auch Spaß." Sie nickte und schob mir einen Schnaps hin: „Mama hat mir einen erlaubt, wenn du mittrinkst." Ich musste schmunzeln und stoß mit ihr an. Ich war froh, dass meine Mutter bei meiner Schwester etwas lockerer war. Sie würde offener in die Welt gehen als ich und vielleicht schneller jemanden finden, der sie glücklich machte.

Am Montag brachte ich Miss King ihren Kaffee und wollte mich wieder entfernen, als sie die Hand hob. „Warten Sie, hier lesen Sie mal darüber", meinte sie und hielt mir einen Stapel Seiten vor die Nase. Ich nahm sie entgegen und lächelte leicht, woraufhin Miss King eine Augenbraue hob. „Machen Sie es nicht kaputt", murmelte sie und ich setzte wieder eine ernste Miene auf. Als ich rausging hörte ich sie leise lachen, doch vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Über die Entwürfe zu lesen, machte großen Spaß und ich war in meinem Element. Ich markierte schöne Stellen und welche, die ich anders schreiben würde. Manchmal ließ ich einen Kommentar an der Seite, doch meistens war ich einfach nur gefesselt beim Lesen. Der Tag ging viel schneller herum als alle Vorherigen und ich hörte erst auf zu lesen, als Miss King plötzlich vor meinem Tisch stand. Sie schaute belustigt auf mich herab und meinte dann: „Kommen Sie." Verwirrt folgte ich ihr in einen Aufzug, eigentlich hatte ich schon längst Feierabend. Wir fuhren rauf statt wie sonst runter und hielten erst im obersten Stockwerk. Dort zeigte sie mir ihr zu folgen und wir liefen durch dunkle Gänge bis hin zu einer Tür, die meine Chefin aufschloss. Dahinter ging es einige Stufen hoch an die frische Luft auf eine Dachterrasse. Meine Augen wurden groß, als ich an das Geländer lief und die Lichter der Stadt sehen konnte. Das Limax-Gebäude war das zweitgrößte der Stadt und von hier aus konnte man bis zur Autobahn sehen. Warmer Sommerwind wehte über meine nackten Arme und ich musste lächeln. „Ich komme jeden Abend hierher", erzählte Miss King, die sich neben mich gestellt hatte und den Blick ebenfalls über die Stadt schweifen ließ. „Es hilft dabei, die Geschichten in meinem Kopf real werden zu lassen."

Ich betrachtete sie von der Seite, ausnahmsweise sprach sie nicht von oben herab. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entspannter als sonst und ihre Augen strahlten etwas mehr. „Warum zeigen Sie mir das?", fragte ich vorsichtig und ihr Blick fand meinen. Ihre grünen Augen blickten wie immer tief in meine Seele und schimmerten wunderschön. „Weil sie mich daran erinnern, dass ich nicht immer ein arroganter Arsch war", sagte sie trocken und ich lief sofort rot an. Sie schmunzelte: „Immerhin versuchen Sie gar nicht zu bestreiten, dass Sie so über mich denken." Ich biss mir verlegen auf die Lippe und ihr Blick veränderte sich leicht. Für eine Sekunde schaute sie auf meine Lippen, dann huschte ihr Blick wieder zu meinen Augen. Der kurze Moment, in dem sie verletzlich gewirkt hatte, verflog und sie richtete sich wieder mehr auf.

„Seien Sie morgen pünktlich", meinte sie noch, dann lief sie zurück zum Treppenhaus und ich folgte ihr schweigend.

Show me your dark linesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt