16.

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Die nächsten Tage ging es mir ziemlich scheiße, vor allem weil Vanessa mich komplett links liegen ließ.

Sie arbeitete ohne Ende und rief mich nur im äußersten Notfall kurz zu sich. Vor anderen war sie noch strenger zu mir als zu den anderen Angestellten. Ich verstand beim besten Willen nicht, was sich plötzlich zwischen uns geändert hatte. Hatte sie jetzt erst kapiert, dass sie meine Chefin war und das nicht erlaubt war? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Vanessa King irgendetwas auf Regeln gab. Wahrscheinlich hatte Jason am Ende einfach recht gehabt, ich fühlte mich dämlich. Ich war gerade auf dem Weg gewesen zu akzeptieren, dass ich tatsächlich eine Frau gut fand, doch das warf mich alles wieder zurück. An einem Wochenende meldete ich mich an der Arbeit krank, sodass ich nicht mit auf eine Gala musste, sondern in meine Heimat fahren konnte. Kayla nahm ich mit, um ihr meine Familie zu zeigen. Wir wurden herzlich mit einem Abendessen empfangen. Manchmal vergaß ich, wie toll meine Familie war und wie lieb ich sie hatte. Meine Schwester freute sich riesig und zeigte mir stolz, dass sie das neue King-Buch bereits verschlungen hatte.

„Ich liebe es", sagte sie ganz begeistert und ich lächelte. „Ja, sie schreibt toll", murmelte ich. Meine Schwester musterte mich und fragte: „Magst du sie nicht?" Ich seufzte, warum kannte mich meine Schwester so gut? Ich legte das Baguette weg, das ich gerade angebissen hatte und meinte: „Sie ist keine einfache Chefin." Die braunen Augen meiner Schwester musterten mich prüfend, dann lehnte sie sich vor und fragte: „Stehst du auf sie?" Verblüfft starrte ich sie an und verschluckte mich an meinem Wasser. Ich bekam einen üblen Hustenanfall, worüber Summer nur lachte. Als ich mich etwas beruhigt hatte, lächelte sie und meinte: „Komm schon, es hat einen Grund, warum du nie einen Mann mitgebracht hast. Du kannst vielleicht Mama täuschen, aber nicht mich." Ich lief unwillkürlich rot an und vergrub mein Gesicht in meinen Handflächen. Ich konnte jetzt unmöglich mit meiner Teenie-Schwester über mein Liebesleben reden. Wie hatte sie es schon die ganze Zeit wissen könne, ohne dass ich es selbst bemerkt hatte? „Sag es keinem, okay?", bettelte ich und sie nickte sofort, was mich erleichterte. Wir saßen lange draußen und machten auch noch ein kleines Lagerfeuer. Logan klimperte auf seiner alten Gitarre und Kayla sang dazu italienische Lieder. Abends lag ich im Bett und starrte an die Decke meines alten Kinderzimmers, als mein Handy vibrierte. Ich erkannte Vanessas Nummer und eine kurze Nachricht: Es tut mir leid. Warum schrieb sie mir das? Jetzt, wo ich sie ausnahmsweise mal kurz vergessen hatte. Mehrmals tippte ich eine Antwort, schickte aber nichts ab. Sollte sie auch mal wissen, wie es war, ignoriert zu werden.

Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei und der Montagmorgen kam mit all seinem Charme. Ich schaffte es gerade so, nicht zu spät zu kommen und stellte den Kaffee auf Vanessas Tisch ab. Sie sah auf und wollte etwas sagen, doch ich machte sofort wieder kehrt und gab ihr nicht die Chance dazu. Nochmal würde ich nicht auf sie reinfallen, auch wenn es mich viel Überwindung kostete. Erstmal ließ sie mich tatsächlich in Ruhe und bis zum Mittag hatte ich einiges geschafft. Dann stand sie plötzlich vor meinem Schreibtisch und meinte: „Bist du soweit?" Ich war kurz verwirrt und blickte auf mein Handy, um den Plan zu laden. „Komm einfach mit, ich erkläre dir auf der Fahrt, wohin es geht." Ich stand auf und folgte ihr in den Fahrstuhl. Die ganze Zeit spürte ich ihren Blick auf mir und versuchte, sie nicht anzusehen. Wieso musste sie so eine Wirkung auf mich haben? Im Wagen schwiegen wir uns an und ich sah aus dem Fenster. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hinfuhren, war aber auch zu feige nachzusehen. Wir fuhren heraus aus der Stadt und einige Zeit übers Land. Irgendwann kamen wir in ein kleines Dorf und hielten vor einem heruntergekommenen Haus. Dort stiegen wir aus und Vanessa schickte den Wagen weg. Verwirrt musterte ich das Haus, das mehr eine Ruine war. Es wirkte, als hätte es mal gebrannt und als hätte danach niemand die Not gesehen, es wieder aufzubauen. Vanessa betrat das Grundstück und kniete sich auf den Boden. Sie wirkte dabei als wäre sie mit ihren Gedanken ganz wo anders. Vorsichtig strich sie den Dreck vom Weg, sodass man wieder einige Pflastersteine erkennen konnte. „Das war mein Zuhause", meinte sie mit dem Blick auf den Boden. Ich schluckte, was war hier bloß passiert? Als hätte sie meine Gedanken gelesen, stand Vanessa auf und erzählte: „Es war das letzte von vielen Häusern, in denen meine Eltern mit mir gelebt haben. Hier hatten sie gehofft, neu anfangen zu können. Aber sie hatten unendlich viele Schulden und haben ständig mehr Stoff gekauft. Ich habe das damals nicht verstanden, erst im letzten Jahr, als ich sechzehn war. Ich habe versucht, ihnen die Drogen wegzunehmen und zu verbrennen, aber es war zu spät. Ich habe sie beide in der Küche gefunden. Sie haben sich den goldenen Schuss gegeben, während ich oben meine Hausaufgaben gemacht habe." Tränen sammelten sich in meinen Augen und mein Herz schmerzte bei ihren Worten. Sie tat mir in diesem Moment so sehr leid, dass ich automatisch nach ihrer Hand griff. Kurz zuckte sie zusammen, doch dann drückte sie meine Hand fester und blickte auf das Gemäuer. „Ich bin weggerannt und habe das Feuer vergessen. Alles ist verbrannt, all meine Ideen, all meine Träume und meine ganze Familie. Seitdem bin ich nicht mehr hier gewesen." Ich blickte sie an und fragte mich sofort, warum sie gerade mit mir hier hergekommen war. Es musste sie unglaublich viel Überwindung gekostet haben. „Ich benutze dich nicht", sagte sie und drehte sich zu mir. Ich nickte, denn ich glaubte ihr jedes Wort. Sie sah mir in die Augen und wie immer hatte ich das Gefühl, sie würde mich viel besser kennen als jeder andere. „Verzeihst du mir?", fragte sie vorsichtig und wirkte tatsächlich leicht nervös. Ich seufzte und lächelte: „Ja, ausnahmsweise." Sofort kehrte ihr Grinsen zurück und sie zog mich in einen kurzen Kuss. Sie verschränkte ihre Finger mit meinen und wir liefen ein wenig durch das kleine Dorf. „Wo hast du dann gelebt?", fragte ich vorsichtig, um ihr nicht zu nahezutreten. Sie zuckte die Achseln: „Mal hier, mal dort. Ich habe Minijobs angenommen und irgendwann ein Stipendium bekommen. Dann ging alles eigentlich ziemlich von selbst und jetzt bin ich die reichste Frau des Landes." Sie sagte es so, als wäre sie definitiv nicht stolz darauf und so langsam verstand ich sie besser. Ich verstand, warum sie so hart zu allen war und niemanden an sich heranließ. Ihre Eltern hatten sie allein gelassen und sie hatte sich allein durchschlagen müssen. Mich hatte schon mein Vater geschädigt, obwohl ich trotzdem behütet aufgewachsen war. Bei ihr konnte ich mir nicht vorstellen, wie schwer ihr Trauma war. „Leitest du die Firma gerne?", fragte ich sie und war erstaunt, wie leicht mir diese Frage über die Lippen kam. Gerade schien es so, als könnte ich mit Vanessa über alles reden. Sie schmunzelte und meinte: „Es wirkt wohl nicht immer so?" Ich lief etwas rot an, doch sie lachte nur: „Ich merke sehr wohl, dass ich manchmal ein Arsch bin. Ich bin nicht gerne gemein zu meinen Angestellten. Ich denke, ich wäre manchmal gerne wieder ein kleiner Autor, der nur für sich schreibt. Andererseits liebe ich das, was ich geschaffen habe. Der Verlag bringt die Menschen dazu, das absolute Maximum aus sich herauszuholen." Ich genoss es, sie reden zu hören. Sie schien völlig in ihrem Element zu sein und erzählte mir von einigen Verlagen, bei denen sie gewesen war. Irgendwann kamen wir an das Ortsende und Vanessa schaute auf ihre Armbanduhr. „Verdammt", stieß sie aus und rief sofort den Fahrer an. Sie wirkte sofort wieder professionell und nicht mehr so nahbar wie die Minuten zuvor. Scheinbar merkte sie, dass ich mich nicht mehr so wohlfühlte, denn sie steckte ihr Handy nochmal weg. „Hey, ich bin immer die gleiche Person, auch wenn ich es manchmal verstecke", meinte sie und ihr Ausdruck wurde wärmer. Ich nickte, auch wenn ich nicht vollkommen überzeugt war. Sie sah sich kurz um und als sie sicher war, dass niemand uns sah, zog sie mich in einen Kuss. Für meinen Geschmack endete er viel zu schnell, doch er erreichte trotzdem, dass es mir besser ging. Im Wagen lächelte Vanessa mich ausnahmsweise an und erst in der Firma hatte sie wieder ihr emotionsloses Pokerface aufgesetzt. Am Abend saß ich mit Kayla und ihren Freunden im Restaurant und wir ließen den Abend schön ausklingen. „Du wirkst heute viel entspannter", meinte sie irgendwann zu mir und ich nickte lächelnd.

Vanessa hatte mir noch eine süße Nachricht geschrieben und ich war mir sicher, dass es diesmal besser laufen würde.


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Ich hoffe ihr seid alle gesund und genießt das nicht wirklich vorhandene Sommerwetter. Die nächsten Wochen werden erstmal keine Kapitel kommen, weil ich im Urlaub bin. Seid nachsichtig :)

Wie immer danke für die Votes und netten Worte!

Show me your dark linesWhere stories live. Discover now