2.

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Als ich aufwachte, fühlte ich mich wie von einem LKW überfahren und schlurfte in die Küche. „Oh, du siehst aus, als bräuchtest du einen Kaffee", ertönte eine helle Stimme. Vor mir auf der Kücheninsel saß ein Mädchen mit Rasterlocken und einem netten Grinsen. Sie trug gemütliche Klamotten und bunte Socken, die Jenny bestimmt geliebt hätte. „Ja, sehr gerne", antwortete ich und nahm die heiße Tasse entgegen. „Ich bin Kayla. Du musst Lia sein, oder?", meinte sie und hielt mir ihre Hand hin. Ich schüttelte sie nickend und trank einen Schluck Kaffee, der wirklich gut schmeckte. Kayla sah wohl meinen Gesichtsausdruck, denn sie grinste: „Es sind besondere Kaffeebohnen. Sorry, wenn die Küche ein Chaos ist. Ich bin Köchin und lebe das Zuhause auch gerne aus." Sie erzählte mir von ihrem Restaurant einige Straßen weiter und von ihren Freunden. Dann fragte sie mich aus und wir redeten noch bis spät abends. Kayla war wirklich nett und ich freute mich, gleich eine neue Freundin gefunden zu haben. Abends im Bett fühlte ich mich dadurch nicht mehr so einsam und widerstand dem Drang, meine Mutter anzurufen. Es würde ihr nur Sorgen bereiten und dann würde sie morgen hier vor der Tür stehen. Morgen, wenn ich zu Limax musste und meinen ersten Arbeitstag hatte. Ich spürte die Aufregung deutlich in mir ansteigen und brauchte ewig zum Einschlafen.

Zum Glück hatte mir Kayla gezeigt, wie man den leckeren Kaffee zubereitete und besaß auch To-Go Becher. Der Weg zum Hauptfirmensitz von Limax war gut ausgeschildert und von unserer Wohnung nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Darüber war ich ziemlich froh, denn der Verkehr in der Stadt machte mir ziemliche Angst. Ich hatte im Internet Bilder von meinem neuen Arbeitsplatz gesehen, doch in echt war er noch um einiges beeindruckender. Wenn man das Gebäude betrat, fühlte man sich warm und geborgen durch das viele Licht, das durch die großen Fenster schien. Unzählige Menschen liefen durch die vielen Gänge und über Treppen, die eine Etage mit der anderen verband. Das Gebäude war so groß, dass ich mir sicher war, mich hier unzählige Male verlaufen zu werden. Ich zuckte zusammen, als ich von hinten angerempelt wurde. „Nicht im Weg stehen bleiben", grummelte mir ein Mann zu, der einen schicken Anzug und eine Aktentasche trug. Sofort lief ich rot an und bewegte mich zügig in Richtung Anmeldung. Ich richtete meine Brille, die ich nur zum Lesen brauchte und räusperte mich, um die Aufmerksamkeit der Sekretärin zu bekommen. Es war eine blonde, hübsche Frau, die eine schicke Uniform trug, auf der Limax stand. „Haben Sie einen Termin?", fragte sie, ohne von dem Bildschirm aufzuschauen, auf dem sie irgendetwas tippte. „Ich bin die neue Assistentin", sagte ich und hörte meine eigene Nervosität deutlich im Zittern meiner Stimme. Die Frau nickte nur und legte ein Klemmbrett auf den Tresen vor mir. „Sechster Stock, Zimmer 611." Mehr würde ich von dieser Frau wohl nicht erfahren, also nahm ich das Klemmbrett und lief zu den Aufzügen. Ewig wartete ich, doch keiner der Fahrstühle kam in meinen Stock, also nahm ich schließlich die Treppe. Außer Atem kam ich im sechsten Stock an und suchte das Büro meiner Chefin. Dieses Gebäude überforderte mich schon jetzt, aber das durfte ich mir wohl nicht anmerken lassen. Ich strich meine Bluse glatt, als ich schließlich vor der richtigen Tür stand und atmete tief durch. Dann klopfte ich und betrat das Zimmer. Das Büro war das größte Zimmer, das ich jemals gesehen hatte und war unglaublich modern. Ein großes Bücherregal stand in einer Ecke, in der anderen war ein großer Bildschirm und daneben ein Whiteboard mit unzähligen Kritzeleien darauf. In einer Vitrine standen einige Preise und am Fenster stand ein großer Schreibtisch, an dem sie saß.

Vanessa King, die erfolgreichste Frau in der Welt der Literatur und Erschafferin des Imperiums Limax. Sie trug einen schicken Hosenanzug und ihre Haare hochgesteckt in einem Dutt. An ihrem Handgelenk glänzten eine schicke Uhr und ein silbernes Armband. Ihr Blick war auf das Blatt gerichtet, das sie las, doch auch so konnte ich erkennen, dass sie kaum älter als ich war. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass man erst mit vierzig oder älter ein solches Unternehmen leiten könnte. „Guten Tag, ich bin", wollte ich mich vorstellen, doch sie hob die Hand und schnipste. „Sie sind zu spät, Kaffee mit einem Schuss Milch und zwei Löffeln Zucker. Die Skripte von 413, 233 und 303. Sagen Sie denen von Etage eins, dass morgen die Frist ist und zwar nicht freundlich. Wenn sie diskutieren wollen, gehen sie einfach und nächstes Mal haben Sie hoffentlich gleich den Stift in der Hand, wenn sie hier reinkommen." Hektisch fummelte ich den Stift von dem Brett und schrieb auf, was mir in Erinnerung war. Sie hatte nicht einmal hochgesehen während ihrer Aufforderung, sondern las einfach weiter den Text. Als ich noch kurz in der Tür stehen blieb, zeigte sie mir mit der Hand zu gehen, was ich sofort tat. Also diese Frau war definitiv respekteinflößend und nicht nett. Ich versuchte alle Aufgaben so schnell wie möglich zu erledigen. Vermutlich war Miss King nur deshalb so aufgebracht, weil ich an meinem ersten Tag zu spät gekommen war. Allerdings hatte es sich nur um Minuten handeln können. Ich brachte ihr alle Skripte und den Kaffee. Als ich alles abgestellt hatte, stand ich etwas unbehaglich vor ihrem Schreibtisch und wusste nicht, was ich tun sollte. In meinem Kopf hörte ich Jennys Stimme, die mir sagte, dass ich auf mich selbst vertrauen solle. Das war leider leichter gesagt als getan, wenn jemand wie Vanessa King vor einem stand. „Setzen Sie sich raus, wenn was ist, klingele ich sie an", meinte meine Chefin mit strengem Unterton und ich setzte mich sofort in Bewegung. Den Rest des Tages saß ich an dem Schreibtisch, der im Vorraum des Büros stand und las mich durch alle möglichen Dinge, die mir helfen könnten. Miss King brauchte mich gar nicht mehr, sodass ich abends nach Hause konnte, ohne sie nochmal gesehen zu haben. Ich beschloss, dass sie heute vermutlich einen schlechten Tag gehabt hatte und es morgen schon besser werden würde. Abends setzte ich mich mit Kayla auf unseren kleinen Balkon und probierte von ihr selbst gemachte Pasta, die vorzüglich schmeckte. Kayla erzählte mir viele Dinge über die Stadt und fragte auch nach meinem Tag.

„Vanessa King ist in dieser Stadt berühmt, aber ich glaube niemand hat je ein richtiges Gespräch mit ihr geführt", meinte Kayla, als ich ihr von meiner Chefin berichtet hatte. „Ich denke mal, wenn du als Frau erfolgreich sein willst, musst du so sein." Ich nickte nachdenklich, wahrscheinlich hatte sie Recht.

Allerdings würde das wohl auch bedeuten, dass mein Job nicht sehr spaßig werden würde.

Show me your dark linesWhere stories live. Discover now