Von Angesicht zu Angesicht

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Ich kam nicht dazu, ihr die Kehle aufzureißen. Stattdessen wurde ich selbst aus meiner Bahn geworfen, als mich ein anderes großes Tier ansprang. Ich schlug hart mit dem Kopf auf dem Boden auf, war aber gleich wieder auf den Beinen und wirbelte knurrend herum. Dann sah ich, wer mich von der Seite angesprungen hatte: Cole Adams in Löwengestalt. Er fauchte zur Antwort. Auf einmal formten sich Worte in meinem Kopf: Verwandel dich zurück! Man brauchte nicht viel Denkvermögen, um zu wissen, von wem die Nachricht war. Aber ich wollte nicht. Ich wollte dieses Überlegenheitsgefühl noch länger spüren. Ich fauchte: „Niemals!“, sprang an ihm vorbei und zum Tor hinaus. Die anderen Schüler, die sich als Zuschauer versammelt hatten, machten bereitwillig Platz.

Und ich rannte einfach los, genoss das Gefühl der Schnelligkeit, der Stärke und der Freiheit. Meine Muskeln bewegten sich so geschmeidig wie noch nie. In kürzester Zeit hatte ich mehrere Kilometer zurückgelegt und war immer noch nicht müde. Der Wind wehte durch mein schwarzes glänzendes Fell und ich nahm tausend Gerüche war. So kam es mir wenigstens vor.

Irgendwann lief ich durch den Wald auf eine Lichtung und legte mich in das weiche grüne Gras. Die Sonne schien warm und die Vögel zwitscherten. Das war viel besser als reiten. Und dann schlief ich ein.

Ich wachte wieder auf, als ich etwas hörte. Ich hatte mich wieder verwandelt und musste ziemlich lange geschlafen haben, denn die Sonne stand schon sehr tief. Zum Glück hatte ich noch Kleider an. Ich setzte mich auf und blickte mich um. Und da stand Cole. Sein gelbes Fell glänzte im Abendlicht rötlich golden und seine Augen musterten mich intensiv. Minutenlang saßen wir einfach nur da und studierten uns. Seine Mähne war groß und prächtig. Seine Beine und seine Haltung strotzten nur so vor Kraft und Überlegenheit. Zuerst dachte ich: Angeber. Aber dann erinnerte ich mich an meine Empfindungen, als ich durch das halbe Land gelaufen war. Vielleicht waren wir uns doch gar nicht so unähnlich.

Mir war trotzdem klar: Jetzt würde die Strafe kommen. Schließlich hatte ich jemanden angefallen, den Befehl des Königs missachtet und war dann auch noch abgehauen.

Er stand auf, umkreiste mich. Ich hörte ihn in meinem Kopf: Ist dir klar, was du getan hast? „Ja“, flüsterte ich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, über die scharfen Zähne. Ich hatte eine Gänsehaut und das lag nicht allein an der heraufziehenden Dämmerung.

Plötzlich schoss etwas Schwarzes aus dem Gebüsch, einem Schatten gleich, und blieb vor mir stehen. Das Tier blickte aber nicht mich an, sondern Cole. Es sah aus, als wolle es mich vor dem Löwen beschützen oder wenigstens abschirmen. An kleinen Mädchen vergreifen? Du bist aber ziemlich tief gesunken. Die Stimme klang eher freudig und nicht abfällig und war weder mir noch Cole. Sie war die des Fremden, des Panthers, der vor mir stand.

Ein undefinierbarer Laut entrang Coles Kehle und er verwandelte sich in einen Menschen zurück. Er lächelte sogar. Ich dachte: Wenn ich das irgendjemandem auf unserer Schule erzählen würde, er würde es mir nicht glauben. Auch der Panther vor mir verwandelte sich nun. Alles, was ich sah, waren jedoch nur ein breiter Rücken, lange, muskulöse Beine und Arme und schwarze, schulterlange Haare. Er ging auf Cole zu und sie umarmten sich. Und ich saß auf dem Boden und schaute zu.

Schließlich drehte sich der Fremde zu mir um und fragte: „Und wer bist du?“ Stahlgraue Augen, hohe Wangenknochen, volle Lippen und dichte Augenbrauen.

„Das ist Mira“, antwortete Cole an meiner Stelle und ich fragte mich, woher er meinen Namen kannte, „und geht mit mir auf eine Schule. Und nein: Ich wollte sie nicht gerade auffressen. Ich musste ihr nur, und muss es eigentlich immer noch, eine Lektion erteilen. Sie ist nämlich noch frecher als du. Aber jetzt hast du alles vermasselt. Nun weiß sie nämlich, dass ich ihr nichts antun würde.“ Sein Blick flackerte zu mir und unwillkürlich musste ich lächeln.

Tränen von BlutDove le storie prendono vita. Scoprilo ora