Schmerzen

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Bildquelle: https://www.uni-jena.de/uni_journal_07_2007_tagungen.html

Wir hatten die beiden Zimmer direkt unterm Dach, in denen jeweils zwei Betten standen. Da das Haus mit Keller vier Stockwerke hoch war, hatten wir eine tolle Aussicht. Der Eiffelturm war gut zu sehen. Komischer Weise war überhaupt kein Verkehr zu hören. Es war fast, als befände sich das Gebäude unter einer unsichtbaren Haube, die alle Geräusche wegfilterte. War es in den unteren Stockwerken kühl gewesen, so war es hier unter dem Dach, wo den ganzen Tag die Sonne durch die Dachfenster knallte, so warm, dass mir kalte Schauer über den Rücken liefen und es mich schüttelte. Ich stellte meinen Koffer an das Bett, das am anderen normalen Fenster stand und öffnete es. Sofort kam ein kühler Wind in den Raum und durch den Zug, der entstand, weil Jace sein Fenster offensichtlich auch geöffnet hatte, schlugen beide Zimmertüren mit einem lauten Knall zu. Meine Haare wirbelten kurz durcheinander, bevor sich der Wind wieder legte. Das kleine Zimmer, in dem nur die beiden Betten und eine Komode standen, war gelb gestrichen und es gab zumindest vor dem Fenster in der Wand über meinem Bett rosa geblühmte Vorhänge, die leise im Wind hin- und herschwangen. Ich setzte mich aufs Bett, lehnte mich an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Wir waren angekommen. In Paris.

Die Erschöpfung war deutlich spürbar. Ich wäre wahrscheinlich eingeschlafen, wenn nicht jemand an die Tür geklopft hätte.

„Ja“, rief ich und öffnete die Augen. Die Tür ging auf und Jace kam herein.

„Na, wie findest du es hier?“, fragte er, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf mein Bett.

„In einer Stadt allgemein, in Paris, in diesem Haus oder in diesem Zimmer?“

„Alles.“

Ich überlegte einen Moment. Dann sagte ich: „In einer Stadt zu sein, ist einfach nur überwältigend. In Paris zu sein, ist noch überwältigender. Das Zimmer ist samt Aussicht toll, aber das Haus an sich ist ziemlich duster und Tante Lorelay finde ich gruselig.“

Jace lachte und meinte: „Das hab ich zuerst auch gedacht, aber erstens ist sie ein Vollblutvampir und hat ihr Haus deshalb so dunkel und zweitens hat sie mir sehr geholfen und dafür bin ich dankbar. Daran solltest du auch denken, wenn du zwischendurch zweifelst. Einmal die Schmerzen auf sich zu nehmen, ist es wert, wenn man danach kein Monster mehr ist und Kontrolle hat.“

„Welche Schmerzen?“

„Ach, das wirst du noch früh genug erfahren. Ich will dir keine Angst machen.“

Ich schaute ihn vorwurfsvoll an und er grinste wieder, als es plötzlich von unten herauftönte: „Jace, Mira, es gibt Mittagessen. Kommt ihr bitte?“

Wir schauten uns unsicher an. Dann standen wir auf und gingen runter. Das Fenster ließ ich offen.

Miriam führte uns diesmal in einen anderen Kellerraum. Er war durch Eisenstangen in zwei Hälften geteilt. Ansonsten befand sich nichts in dem Raum.

„Lorelay wird sicher gleich kommen“, sagte Miriam und verschränkte die Arme. Wir warteten etwa zwei Minuten, bis unsere Tante mit wehenden Röcken in den Raum kam. Ihre Miene war ausdruckslos. Sie ging sofort zu den Eisenstäben, zog einen Schlüssel hervor und öffnete eine Tür. Mir wurde klar, dass das ein Käfig war.

Lorelay trat einen Schritt zur Seite und sagte: „Wenn du bitte hier rein gehen würdest?“

Ich schaute zu den anderen, aber es war eindeutig, dass sie mich meinte. Langsam ging ich einige Schritte vor und betrat das Gefängnis. Lorelay schlug hinter mir die Tür zu und drehte den Schlüssel drei Mal. Alle schauten zu mir. Ich fühlte mich auf einmal sehr alleine.

„Dann können wir jetzt anfangen“, meinte sie und rieb sich die Hände. Sie schnappte sich Miriam und nahm ihren Zeigefinger in ihre Hand. Auf einmal hatte sie eine Nadel in der anderen und piekste Miriam, die nicht einmal aufquiekte. Ein großer Blutstropfen quoll hervor und rann ihr Handgelenk hinab. Alle meine Sinne waren sofort auf hundertachzig. Ich konnte das Blut riechen, ich konnte es sehen, ich konnte ihren Herzschlag hören und in meinem Kopf fühlen, ich konnte den Hunger spüren, der meinen Magen verkrampfen ließ, ich konnte fühlen, wie mir meine Eckzähne in die Zunge pieksten, die sofort wieder heilte. Meine Kehle stand in Flammen, brannte und kreischte nach Blut, nach Nahrung. Meine Hände krampften sich um die Eisenstäbe. Alle Muskeln spannten sich an, jedes Gelenk schmerzte. Meine Fingernägel brachen, bluteten, doch es lenkte mich nicht ab. Schließlich kamen auch die altbekannten roten Schwaden, die mehr und mehr meine Sicht verfärbten. Bis alles rot wurde und ich das Bewusstsein verlor, nur noch am Rande mitbekam, was passierte. Weil alles andere von dem Schmerz überschattet wurde, der nach und nach meinen Körper zerfraß, bis ich nichts anderes mehr wollte, als dass dieser Schmerz aufhörte.

Tränen von BlutWhere stories live. Discover now