Weglaufen (Mira)

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Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich auf einem Sofa und konnte mich an nichts erinnern. Meinen Versuch, aus dem Fenster zu klettern, hatte ich noch lebhaft vor mir. Ich sah auf meine Hände. Die Verbrennungen waren wieder vollständig verheilt. Das war ein Vorteil, wenn man ein Vampir war. Es war wegen der kleinen Fenster nicht besonders hell in dem Raum, aber man konnte erkennen, dass es so auf die Mittagszeit zuging. Was war nur den ganzen Vormittag geschehen? War ich durch die Schmerzen bewusstlos geworden? Oder hatte sich mein Gedächtnis verabschiedet und der Vampir in mir die Führung übernommen? Hoffentlich nicht. Hoffentlich hatte ich niemanden verletzt oder... Ich wagte es nicht, dieses Wort auch nur zu denken. Aber ich musste Gewissheit haben.

Ich stand auf und schaute mich im Raum um. Er war länglich und außer dem Sofa waren die Wände voll mit Bücherregalen. An der einen Kurzen Wand war ein Fenster und an der anderen eine Tür. Ich machte sie auf und verließ das Zimmer. Offensichtlich führten alle Räume in die Küche oder zumindest Schlafzimmer und Wohnzimmer. Die Frau mit dem Kopftuch, Julian, Jace, Cole und eine andere Frau, die ich nicht kannte, saßen schweigend am Küchentisch und aßen. Das hieß: Die beiden Frauen und Cole aßen. Jace und Julian schauten nur zu. Cole entdeckte mich zuerst, doch er sagte nichts, schaute mich nur mit einem so ausdruckslosen Gesichtsausdruck an, dass mir beinahe schon wieder die Tränen kamen. Und auf einmal wurde mir klar, dass ich einen riesengroßen Fehler begangen hatte. Es würde ihn nicht verändern, mich Blut trinken zu sehen, weil er mich wirklich liebte. Aber es würde ihn verändern, wenn er alleine war und man sich von ihm abkehrte, so wie ich es getan hatte. Ich wollte nicht, dass er verletzt wurde oder dass man ihm wehtat, und trotzdem hatte ich es getan. Weil ich nicht nachgedacht hatte. Ich wollte es auch, nicht von ihm getrennt sein, weil ich ihn ebenso liebte.

„Mira, wie geht es Dir?“, fragte Jace, dem nun wohl auch aufgefallen war, dass ich im Raum stand.

„Gut, ähm... Was ist passiert?“

Keiner antwortete. Alle hofften darauf, dass es ein anderer tat.

„Hab ich...?“

„Hör zu, Mira: Du konntest nichts dafür. Nicht direkt“, sagte schließlich Julian. „Wärst du allerdings nicht weggelaufen, wäre das ganze nicht passiert. Wobei Jace besser auf dich hätte aufpassen sollen.“

„Was ist denn überhaupt passiert?“, rief ich gereizt. „Hab ich jemanden verletzt? Getötet? Ihr könnt es mir ruhig sagen. Wirklich.“

Wieder wurden nur stumme Blicke getauscht. Außer Cole. Er starrte mich weiterhin ausdruckslos an. Das nervte mich langsam.

Da sagte auf einmal die Frau, die mich gestern aufgenommen hatte und deren Namen ich immer noch nicht wusste: „Du hast gestern an meine Tür geklopft und...“

„Das weiß ich noch. Aber was ist heute morgen passiert. Ich erinnere mich noch, dass ich in einem fremden Bett aufgewacht bin und... naja... Hunger hatte. Und dass du mich eingesperrt hast und ich versucht habe, durch das Fenster rauszukommen.“

„Du hast auch versucht, durch die Tür rauszukommen.“ Sie nickte zur Wand hinter mir. Ich drehte mich um. Im Türrahmen befand sich keine Tür mehr, sondern nur noch Holzsplitzer an den Angeln. Dahinter konnte ich das Bett mit der bunten Bettwäsche erkennen. Ich zog die Augenbrauen hoch und drehte mich wieder zum Tisch um.

„Zum Glück war Julian zu dem Zeitpunkt schon da und hat dich gestoppt“, fuhr sie fort.

„Soll heißen?“

„Du hast niemanden verletzt oder getötet.“

Ich atmete innerlich aus. „Und wie habt ihr uns hier gefunden und wie kamst du überhaupt hier her, Julian. Die Sonne scheint doch?“, fragte ich.

„Emma hat mich angerufen und ich hab mich dick angezogen. Er nickte zum Kleiderhaken an der Wand, an dem Mütze, Handschuhe, dicke Jacke, eine Decke und ein Regenschirm hingen. „Also kennt ihr euch?“, fragte ich weiter und setzte mich an den Tisch.

Julian holte tief Luft und sagte: „Ach ja, Jace, das wollte ich dir auch noch erzählen: Emma, ähm... Also sie... Wie soll ich das sagen? Sie... sie... also... Emma ist deine Mutter.“

Auf einmal herrschte Stille und mir fiel erst jetzt auf, wie laut das Klappern des Bestecks gewesen war. Alle schauten Jace an, sogar Cole, um seine Reaktion zu sehen, und Jace starrte seinen Vater an. Dann wanderte sein entgeisterter Blick zu Emma, die wiederum auf ihren Teller schaute. Ich schaute zwischen beiden hin und her und nun viel mir auch auf, dass sie beide dieselben Augen und dieselben hohen Wangenknochen hatten. Schließlich hob sie den Kopf und musterte ihn genauso intensiv und nun mit anderen Augen wie er sie. Was musste das für ein Moment für Jace sein, der nach siebzehn Jahren erfuhr, dass die eigene Mutter, die er kein einziges Mal gesehen hatte, vor ihm am Essenstisch saß. Ich überlegte, was ich machen würde, wenn es meine meine Mutter wäre, die ich nach etlichen Jahren wiedersehen würde...

Ich wollte Jace und seiner Mutter ein wenig Zeit für sich geben, stand auf und ging hinaus in die Sonne, wobei die Blätter der Bäume viele Strahlen unterbrachen, bevor sie die Erde erreichen konnten. Es war trotzdem warm, eine leichte Brise wehte und die Vögelchen sangen ihre Lieder. Es war wunderschön. Ich musste an Cole denken und daran, wie schön es wäre, wenn er bei mir sein könnte und es keine Vampirprobleme gäbe.

„Willst du wieder davonlaufen?“ Seine Stimme klang bitter und er hatte seine Hände in den Hosentaschen, als ich mich zu ihm umdrehte.

„Ich wollte ihnen nur ein wenig Zeit für sich geben“, antwortete ich.

„Das meine ich auch gar nicht.“

Schweigen. Wir schauten beide in die Natur und nicht uns selbst an.

Dann sagte er: „Du solltest nicht vor deinen Problemen weglaufen. Du solltest dich ihnen stellen und sie bezwingen, sonst werden sie immer da sein. Lass dir das Leben nicht durch so etwas vermiesen. In deinem Fall wäre es zu lang, um die ganze Zeit unglücklich zu sein.“

„Ich soll nicht weggelaufen?“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu.

„Ja.“

„Ich soll mich meinen Problemen stellen?“ Noch ein Schritt.

„Ja.“

„Ich soll mich durch so was nicht einschränken lassen?“ Noch ein Schritt.

„Ja.“

„Es tut mir leid, was ich gesagt oder getan habe. Ich liebe dich, Cole.“ Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, es laut auszusprechen und nun konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Dieses Mal war ich diejenige, die ihn küsste.

Cole hielt sich aber ebenfalls nicht zurück. Er schlang die Arme fest um mich und drückte mich fest an sich.

Wie nervend doch ein T-Shirt sein konnte. Denn obwohl wir schon so nah wie möglich aneinander gepresst waren, wollte ich noch mehr. Noch mehr Wärme. Noch mehr Nähe. Noch mehr Cole.

Tränen von BlutOnde histórias criam vida. Descubra agora