Flaschenpost

2K 128 12
                                    

Bildquelle: http://www.adpic.de/lizenzfreie_bilder/Natur/Meer%20_und_%20Strand/Flaschenpost_47967.html

Seine Schwester Lorelay wohnte in Paris. Wir würden mit dem Zug fahren, denn sonst müsste uns jemand hinbringen, um das Auto wieder mit nach Hause zu nehmen. Julian würde uns nur bis zum Bahnhof fahren. Natürlich nachts, denn schließlich würde ihn das Tageslicht töten. Die Koffer waren alle gepackt und im Kofferraum verstaut. Wir standen vor der Garage und verabschiedeten uns. Cole würde nicht zum Bahnhof kommen. Er hatte morgen eine wichtige Prüfung.

Bevor wir allerdings losfuhren, fand noch die Verabschiedung im kleinen Kreis statt, also von Emma und Cole. Zwischen Emma und mir herrschte eine angespannte Beziehung. Wir hatten unser Gespräch beide nicht vergessen, auch wenn mir damals noch nicht klar war, wem ich die ganzen Vorwürfe an den Kopf geworfen hatte. Ein wenig konnte ich sie ja verstehen, obwohl, nein, konnte ich nicht. So angestrengt ich auch versuchte, es nachzuvollziehen, mir war es völlig schleierhaft, wie man seine Kinder weggeben konnte. Ihr die Hand zu schütteln kam mir zu formal vor, doch umarmen wollte ich sie auch nicht. Also vergrub ich meine Hände tief in den Jackentaschen und stellte mich gerade hin.

„Ich weiß, dass es schwer ist, mich als Mutter zu akzeptieren", begann sie. „Du hast mir ja auch schon gesagt, was du von meinem Verhalten denkst. Ich weiß auch, dass wir nie ein solches Mutter-Tochter-Verhältnis haben werden, wie in anderen Familien, wo die Kinder in den Armen der Mutter aufgewachsen sind und das war mein Fehler. Aber ich hoffe trotzdem, dass wir irgendwann vielleicht doch in unserer Gegenwart nicht ständig daran denken müssen und sich unsere Beziehung noch bessert. Jedenfalls wünsche ich euch eine angenehme Reise und viel Erfolg bei Tante Lorelay." Ich nickte nur kurz. Sprechen konnte ich nicht, denn mir saß ein dicker, fetter Kloß im Hals. Ich musste ziemlich unfreundlich rüberkommen, denn auch ein Lächeln brachte ich nicht zustande.

Ich wandte mich so schnell wie möglich Cole zu. Er nahm mich sofort fest in den Arm. Ich schlang meine Arme um ihn und drückte ihn ebenso fest an mich.

„In fünf Wochen komme ich nach, keine Sorge", flüsterte er in mein Haar.

Ich nickte und schaute zu ihm auf. Er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände, fuhr mit seinem Daumen über meine Wange und küsste mich sanft. So sanft, dass meine Lippen kribbelten, wie wenn man sie nur ganz leicht aufeinander legt und summt. Ich schob meinen Kopf vor, weil ich noch mehr wollte, doch ich hatte vergessen, dass alle anderen auf uns warteten und, was noch viel schlimmer war, zuschauten. Cole hatte es nicht vergessen, richtete sich wieder auf und ließ mich los.

Da alle mit dem Verabschieden fertig waren, stiegen wir zügig ein. Mein Bruder und ich setzten uns auf die Rückbank. Jace bedachte mich beim Anschnallen mit einem wissenden Blick, was mir ein kleines Lächeln entlockte, als ich an Coles und meine etwas wilder ausartenden Küsse im Wald dachte.

Julian fuhr los. Als ich zurückschaute, sah ich, dass sich Emma und Cole unterhielten. Ich hätte zu gerne gewusst, über was, doch das würde ich wohl nie erfahren.

Wir fuhren etwa eine halbe Stunde, bis wir am Bahnhof ankamen. Uns blieb noch eine Stunde Wartezeit. Nachdem wir unsere Tickets gezogen hatten, gingen wir zum Bahnsteig. Es waren kaum andere Menschen da. Alles war Still, kein Vogelzwitschern, kein Grillenzirpen. Nur irgendwo im Wald konnte man eine Eule schreien hören. Ein bisschen unheimlich war es schon, aber auch irgendwie gemütlich und angenehm, den warmen Wind zu spüren.

Julian verabschiedete sich bei uns beiden mit einer Umarmung, wünschte uns eine gute Fahrt und meinte, wir sollten anrufen, wenn wir da waren. Dann ging er zurück zum Auto und fuhr los. Jace und ich setzten uns nebeneinander auf eine Bank und stellten unsere Koffer vor uns. Ich schaute auf die Uhr. Noch eine dreiviertel Stunde. Das konnte lang werden.

„Ich bin froh, dass du dich für Cole entschieden hast. Man sieht euch beiden an, dass es euch gut tut", begann Jace ein Gespräch.

„Ich auch", sagte ich.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du meine Zwillingsschwester bist", meinte er.

„Ich auch nicht, dass du mein Bruder bist, aber ich find's cool."

„Das stand ja wohl außer Frage."

Wir schwiegen eine Weile, genossen die nächtliche Stille. Eine Bahnhoflampe summte und flackerte. Fliegen umkreisten sie. Dann ging sie aus. Es blieben noch vier weitere Lampen. Mond und Sterne konnte man nicht sehen. Die Uhr auf der anderen Seite des Gleises war stehen geblieben und halb von Efeu eingenommen. Zwischen den Steinen wucherte schon das Unkraut und das Gras am Rand ging mir bis über die Knie.

„Ich glaube nicht, dass wir uns auch nur annähernd vorstellen können, was du durchmachst. Ich war zwar auch verunsichert, als ich den Bluthunger zu spüren bekam, aber mein Vater hatte mich ja schon die ganzen Jahre darauf vorbereitet", unterbrach Jace die Ruhe.

„Ja." Meine Antwort fiel sehr eintönig aus. Ich starrte weiter vor mich hin.

„Ich meine, wenn ich schon die Alge bin, die von den Strömungen hin- und hergeschaukelt wird, dann bist du die Flaschenpost, die von den Wellen hin- und hergeschleudert wird, überhaupt keinen Halt hat, gegen Felsen geworfen wird, die auf Sand gespült wird und schon Hoffnung hat, jemand findet sie, findet ihren stummen Hilfeschrei, und die dann doch wieder von den Wellen mitgenommen und davongetragen wird, weg von der rettenden Insel. Was muss das für ein Leben sein."

Das war ein so schöner Vergleich, dass mir die Tränen in die Augen traten. Ich sah immer noch nach unten, während ich sagte: „Und jetzt haben mich die Wellen zwischen zwei Felsen gespült. Meine Familie und Cole, und so fest sie auch an mir zerren, ich bleibe, wo ich bin, denn ich werde festgehalten."

Ich sah auf. Jace beobachtete mich lächelnd. Ich lächelte auch durch meinen Tränenschleier. Dann, ich wusste selbst nicht, wieso ich es tat, rutschte ich näher und lehnte mich an ihn. Etwas zögerlich und unbeholfen legte er seine Arme um mich. Ich schloss die Augen und lauschte dem nahenden Zug.

Als er mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam, flüsterte ich, sodass es keiner hören konnte, nicht einmal Jace: „Fragt sich, wer die Person sein wird, die meinen Hilferuf hört, mich findet und mich rettet."

Tränen von BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt