Zwillinge

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Zum Glück erlaubte Julian uns, mit dem Auto zu fahren. Dass er uns überhaupt gehen ließ, war schon ein Wunder und nur mit viel Überredungskraft konnte Cole ihn schließlich überzeugen. Wahrscheinlich war er heute besonders gut drauf. Wir hatten ihm nicht gesagt, warum wir in die Stadt wollten.

Und so saßen wir nun zu zweit im schwarzen Aston Martin und rasten die Landstraße entlang. Das Wetter war nicht so gut wie die anderen Tage. Die Sonne hatte kaum Chancen, durch die dichte Wolkendecke zu brechen. Aber das schadete meiner guten Laune nicht viel, denn die ganze Fahrt über lag meine Hand in seiner, es sei denn, er brauchte beide.

Offenbar war Cole schon öfter in der Stadt gewesen, denn er brauchte kein Nawi. Er war es auch, der Emma nach dem Namen des Kinderheims und der Stadt gefragt hatte. Das Gebäude lag etwas außerhalb und man konnte entweder außenrum oder mitten durch die Stadt fahren, um dorthin zu kommen. Wir hatten uns für außenrum entschieden, weil das zwar länger aber wahrscheinlich schneller war. Das Heim war nicht schwer zu finden, auch wenn es von Bäumen umgeben war. Es gab keine Parkplätze und so mussten wir auf dem Rasen parken, der glücklicherweise nicht allzu hoch war. Hoffentlich würde es nicht regnen, denn dann würde der über die schönen Tage trockenen Boden aufweichen und wir kämen vermutlich nicht mehr auf die Straße. In der Stille, die der abgeschaltete Motor hinterlassen hatte, merkte ich plötzlich, dass ich aufgeregt war. Was würden wir vorfinden? Die Möglichkeit, dass man uns nicht weiterhelfen konnte, war erschreckend hoch. Ich schaute zu Cole. Er schaute zu mir und wartete auf ein Startzeichen. Ich holte tief Luft und nickte. Dann stiegen wir aus.

Es war frischer geworden. Der Himmel war grau und die meterhohen Bäume raschelte in der kühlen Brise. Ein bisschen unheimlich war das schon. Ich schaute zum Gebäude. Es hatte ein rotes Dach, beige angestrichene Wände und weiße Fensterrahmen. Mindestens vier Stockwerke, die durch zahlreiche kleine Fenster markiert waren, konnte ich zählen. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Alles war dunkel. Gab es hier keine Kinder mehr? Es gab nur einen Weg, das rauszukriegen. Neuen Mutes ging ich auf die rote Eingangstür zu. Eine Klingel suchte ich vergebens und so klopfte ich an. Nichts. Ich klopfte noch einmal. Endlich konnte man Schritte hören und die Tür wurde mit einer ungewöhnlichen Energie geöffnet für eine so alte Frau, die dahinter zum Vorschein kam. Sie hatte die grauen Haare in einem strengen Dutt nach hinten frisiert und trug eine kleine Brille auf ihrer kleinen Nase. Die faltige Haut am Hals und im Gesicht erinnerten mich an einen Truthahn und ihr tiefblaues Kleid mit der weißen Schürze an eine Uniform.

„Was kann ich für euch tun?", fragte sie mit krächzender Stimme und schaute mit zusammen gekniffenen Augen zu mir auf, denn sie ging mir nur etwa bis zu den Schultern.

„Wir möchten gerne mit der Leiterin dieses Heims sprechen", kam Cole direkt zum Punkt. Er war in etwa zwei bis drei Köpfe größer als sie.

Sie musterte uns noch einmal eindringlich und sagte: „Kommt mit."

Wir machten hinter uns die Eingangstür zu und folgten ihr. Auch im Innern des Hauses war es totenstill. Auf dem Weg begegneten wir nur einem Mädchen, das ebenfalls einen strengen Dutt und ein blaues Kleid trug. Sie schaute nur kurz zu uns, doch als sie merkte, dass ich sie sah, senkte sie schnell wieder den Kopf und eilte weiter. Sie war in unserem Alter und sie sah sehr unglücklich aus. Betroffen wandte ich mich wieder nach vorne.

Die Frau die uns aufgemacht hatte, klopfte an eine Holztür und trat dann ein. Wir folgten. Der Raum dahinter entpuppte sich als Arbeitszimmer, doch die grauen Wände, der aufgeräumte Schreibtisch und die Tatsache, dass außer einem Stuhl nichts weiter als Möbilierung diente, ließen es trostlos und kalt wirken. Wer wollte hier denn arbeiten? Offensichtlich die Frau, die hinter dem Schreibtisch saß. Auch ihre braunen Haare waren in einem Dutt zusammengesteckt, doch sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid. Sie war groß und hager und mir sofort unsympathisch. Ihr Blick hatte keinerlei Wärme, als sie fragte: „Was ist los?" Ihre Stimme klang genauso kalt und klirrend.

Tränen von BlutWhere stories live. Discover now