2. Kapitel

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»Bist du etwa schon wieder an deinem Schreibtisch eingeschlafen?«

Die durchdringende Stimme ließ mich erschrocken zusammenfahren und meinen Kopf anheben.

Mit verschleierter Sicht schaute ich direkt durch das Fenster in unseren Garten, erkannte den Nebel, der alles für sich eingenommen hatte und alles verschluckte, was er zu greifen bekam.

Meine Schultern schmerzten, da ich sie seit Stunden nicht bewegt hatte. Meine Arme waren rot und voller Abdrücke und meine Wange fühlte sich etwas taub an. Wahrscheinlich, weil ich so lange auf ihr gelegen hatte.

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich zur Besinnung kam und meinen Blick zur Seite huschen ließ, wo bereits meine Mum stand und mich besorgt musterte. Diese Falten auf ihrer Stirn galten immer nur mir.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich sie von Panik erfasst, als ich tatsächlich erwachte.

»Halbsechs. So wie jeden Morgen, wenn du noch nicht aus deinem Zimmer gekommen bist.«

Ihre haselnussbraunen Augen rissen sich ein Stück weit auf, bevor sie wieder mandelförmig wirkten. Sie war bereits angezogen und hatte ihre goldblonden Haare zu einer leichten Welle geföhnt.

Ich griff nach meinem Wecker und sah, dass er wieder mal stehen geblieben war.

»Du blödes Ding!«, zischte ich und versetzte ihm einen Schlag mit meiner Hand. Wieder dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis ich schaltete. »Guten Morgen«, flüsterte ich schließlich in Mums Richtung, ehe ich erneut in Panik verfiel. Die Zeit arbeitete stets gegen mich. »Ich muss mich fertigmachen«, krächzte ich und wollte schon von meinem Stuhl stürzen, als Mum mir ihre Hände auf die Schultern legte.

»Morgen«, seufzte sie und stellte mir ein Tablett mit einem Schinkenbrot und ein paar klein geschnittenen Tomatenstückchen hin.

»Wow, Frühstück am ... Schreibtisch.« Halbherzig lächelte ich über diesen Anblick, doch dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Ich musste zusehen, dass ich fertig wurde.

»Sie sind noch am Schlafen. Du hast fünf Minuten.« Wir wechselten kurze, verschwörerische Blicke.

»Danke«, hauchte ich und nahm mir gleich ein Stück Tomate.

»Amelie, bitte denk doch nächstes Mal daran, früher mit dem Lernen aufzuhören und ins Bett zu gehen.«

»Ich habe nicht gelernt, sondern gelesen«, erklärte ich und biss von meinem Brot ab.

»Wie auch immer. Fast jeden Morgen finde ich dich hier so vor. Du trägst sogar noch deine Anziehsachen von gestern. Ist das nicht unheimlich unbequem mit der langen Hose?«

»Hat doch einen Gummizug«, murmelte ich mit vollem Mund.

»Die Haltung, die du dort beim Schlafen einnimmst, ist nicht gerade gut für deinen Rücken. Ich will dir nichts, das weißt du, aber bitte verleg doch deine Lernerei ...«, ich drehte mich mit einem grimmigen Blick zu ihr, »oder Leserei«, fügte sie bittersüß hinzu, »ins Bett, okay? Dann gibt's auch keine Probleme.«

»Ich werd's versuchen«, erwiderte ich und nahm noch einen Bissen von meinem Brot.

»Ich gehe dann mal deine Schwestern wecken. Das heißt ... in fünf Minuten.«

Sie zwinkerte mir zu, als sie aus der Tür schritt. Ich erwiderte ihre liebevolle Geste mit einem Lächeln. Der kleine Vorsprung verschaffte mir etwas Zeit, um noch schnell zu frühstücken. Doch erst als sie aus dem Zimmer war, hatte ich das Gefühl wieder richtig atmen zu können.

Ich hielt mich ran ans Essen und dachte nach. Mum hatte recht. Ich sollte nicht am Schreibtisch lesen. Eigentlich sollte ich überhaupt nicht lesen, vor allem nicht diese Gedichte. Wolfgang Amondos geschriebene Werke waren zwar mit einer der besten Gedichte der englischen Literatur, aber ich für meinen Teil, sollte mich nicht allzu sehr damit befassen. Es verursachte Träume, aus denen ich nicht schlau wurde. Ich machte mir viel zu viele Gedanken über die gedruckten Worte, die doch eigentlich nur aus ein paar langweiligen Buchstaben bestanden.

Kerrinia - Anuras AufstiegWhere stories live. Discover now