5. Kapitel

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Hexe! Hexe! Hexe!

Ich rannte durch einen dunklen Wald, hinter mir Amanda, Mary, Carola und der Rest der ganzen Schule. In ihren Händen todbringende Fackeln, Speere und Haken. Ich trug ein langes weißes Kleid, welches sich dauernd um meine Füße schlingen wollte, damit ich hinfiel. Ich trug keine Schuhe und als ich einen weiteren Blick nach hinten machte, sah ich auch meine Schwestern, welche ebenfalls in weiße Kleider gehüllt waren und barfuß über die Erde jagten. Nichts mehr da von ihren glamourösen Paillettenkleidern und halsbrecherischen High Heels.

Ich nahm den Blick wieder nach vorne und hetzte weiter davon. Vor mir eröffneten sich schemenhafte Welten, Umrisse von merkwürdigen Gestalten, von kleinen und großen, breiten und schmalen. Sie richteten ihre Körper schwer und ächzend zu meinen Seiten auf, während ihre stöhnenden Laute über mir schwebten. Kleine goldene Kronen flogen in einem spiralförmigen Looping durch den sternenlosen Himmel. Sie rasten mit unfassbar hoher Geschwindigkeit auf mich hinab. Ihre scharfen Spitzen blitzten im Mondlicht auf, bereit dazu, sich in meine Haut zu bohren. Ich schrie einen heiseren Hilfeschrei aus und stolperte weiter nach vorne. Meine Knie brannten schmerzlich, genauso wie mein rechter Ellenbogen, doch ich war nicht verletzt. Noch nicht.

Nun erst bemerkte ich, dass ich humpelte. Die Angst, in die Fänge der Horde zu geraten, da ich zu langsam war, fraß mich von innen nach außen auf. Meine Hände fassten nach ein paar Haarsträhnen, die mir ins Gesicht gefallen waren und an meinen spröden Lippen klebten. Sie waren blutrot, lodernd wie Flammen. Hastig klemmte ich sie mir hinter meine Ohren, als ich komische lange Verdickungen an Wangen und meinem Hals spürte.

Von Panik erfüllt, tastete ich mit meinen Fingerspitzen nach den schmerzenden Hautwülsten und erschrak. Es waren Narben! Lauter kleine Erinnerungen an wohl ziemlich furchtbare Qualen. Was war bloß mit mir geschehen? Traum und Realität verschwammen vor meinem inneren Auge miteinander und schlossen die Tore, um aus ihnen zu fliehen.

Ich irrte umher, ohne zu wissen, was wahr und was falsch war. Als die Menschenmenge hinter mir immer und immer wieder das Wort Hexe rief, durchbohrte es mich wie ein Kugelhagel. Ich flog vorne über in einen tiefschwarzen Abgrund und konnte mich durch nichts mehr retten.

Mein Körper bebte, als ich keuchend erwachte. Ich war nicht nassgeschwitzt, doch zu aufgewühlt, um einfach weiterzuschlafen. Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war halbvier in der Nacht. Mit langsamen Bewegungen stieg ich aus dem Bett und zog mir meinen flauschigen Bademantel über. Schlendernd machte ich mich auf zu meinem Schreibtisch, an den ich mich setzte und nach draußen starrte.

Der Himmel war ein einziger Teerklumpen. Nichts verriet den anbrechenden Morgen. Es schien, als würde diese Nacht endlos sein.

Da erhaschten meine Augen die kleine Spieldose, die ich schon seit etlichen Jahren besaß. Vorsichtig nahm ich sie in die Hand und drehte an dem verrosteten Schlüssel. Es öffnete sich eine kleine silbrige Klappe und gab einen bunten Clown frei, der sich mit einem Hund an der Leine immer wieder im Kreis drehte. Dazu ertönte eine verträumte Melodie, die mich wieder müde werden ließ. Ich legte meinen Kopf auf meine Arme und lauschte noch eine Weile der Musik, während ich die Eiche beobachtete. Ich fühlte mich ein wenig geborgener als zuvor. Die leise Melodie beruhigte mich und die alte, vertraute Eiche gab mir ein Gefühl der Sicherheit.

Plötzlich begannen ihre Blüten zu glühen. Ich schreckte hoch und konnte meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Sie strahlten heller als jede Kerze, funkelten mehr als die teuersten Edelsteine. Mit einem Mal leuchtete unser ganzer Garten wie ein Sternenmeer, als hätte jemand zehn Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Ich stand von meinem Stuhl auf und atmete viel zu schnell ein und wieder aus.

»Dad«, flüsterte ich hilflos.

Dann war es, als würde jemand einen Stecker ziehen. Das Licht verschwand und die Dunkelheit legte sich zurück auf unseren Garten. Ich schluckte und kniff die Augen zusammen. Ich wusste, was ich gesehen hatte, doch würde mir bloß keiner glauben. Das Strahlen traf mich aus heiterem Himmel. Als ich meine Augen wieder aufschlug, erstrahlte der Baum in einem gleißenden Licht, einem Licht, welches nicht von dieser Welt war.

Kerrinia - Anuras AufstiegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt