28. Kapitel

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Obwohl es nur Sekunden waren, in denen wir uns nah kamen, spürte ich, wie kaputt er war. Seine offenen Wunden auf Gesicht, Hals und Oberkörper glänzten im trüben Licht der Sonne, seine Hose war so abgenutzt, dass sie an manchen Stellen schon vom Hinsehen zerriss, sein Körper war ausgemergelt und von Dreck und Sand nur so überzogen. All sein Leid herrschte nicht nur in seiner Seele, sondern war von Außen schon zu sehen.

Ich war jedoch diejenige, die sich zurückzog, um seine Reaktion abzuwarten und meine Gedanken zu sortieren. Vielleicht hatte es ihm gar nicht gefallen und er stieß mich jeden Moment von sich weg. Doch genau das Gegenteil war der Fall, denn ihm reichte das anscheinend noch lange nicht. Diesmal folgte ein langer, inniger Kuss und mir wurde sofort bewusst das dass gerade nicht zu einem Kuss zählte. Seine warmen, rauen Lippen schmiegten sich sehnsüchtig auf meine, während er mich weiter an sich zog. Ich legte meine Arme um seinen sandigen Hals und konnte nicht glauben, was gerade passierte.

Wenn ich mir meinen ersten Kuss jemals vorgestellt hätte, wäre er um Weiten nicht so schön ausgefallen wie dieser, denn er übertraf jeglichen gedanklichen Horizont. Es war ein Gemisch aus Zärtlichkeit, unendlicher Wärme und Sehnsucht, welches zwischen uns entstand, sodass es kaum auszuhalten war. Seine heißen Lippen liebkosten meine gekonnt, als würde er jeden Tag nichts anderes tun, als jemanden so leidenschaftlich zu küssen. Seine Hände lagen behutsam auf meinen Wangen, während er mich immer wieder erneut zu sich zog.

Nie war jemand so zärtlich mit mir umgegangen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, so etwas je zu erleben. Vielleicht hatte ich es mir bisher auch nie zugetraut, mir immer nur eingeredet, dass ich es nicht wert war, dass ich diese Liebe nicht verdiente.

Er war derjenige, der aufhörte und mich erwartungsvoll ansah, dabei war ich die, die jetzt am liebsten auch um mehr gefleht hätte.

»Du bist so schön«, hauchte er und strich mir behutsam mein Haar aus dem Gesicht.

Eine Eisentür wurde aufgezogen und schwere Schritte waren zu hören. Sofort klammerte ich mich an Jonathan und hielt den Atem an.

»Sie holen mich!« Ich wimmerte und presste meine Stirn gegen seine Brust.

»Euch wird nichts passieren«, versprach er und streichelte hastig über mein Haar. »Ich werde mir etwas ausdenken. Geh mit ihnen. Ich werde euch gleich folgen und irgendetwas tun, um zu verhindern, dass euch etwas geschieht.« Seine Finger strichen über meine Wange. »Er darf mich nicht sofort sehen, denn er soll ahnungslos sein. Mach dir keine Gedanken. Ich werde da sein.«

Jonathan war dabei zu gehen. Wobei er mehr humpelte, als dass er lief.

»Nein, das wirst du nicht tun. Du bist vollkommen verrückt«, flüsterte ich halb erstickt.

»Du doch auch.«

»Jonathan«, flüsterte ich und kam nochmals auf ihn zu.

Ich hauchte ihm einen leichten Kuss auf die Wange und wechselte danach einen sehnsüchtigen Blick mit ihm.

»Geh, bitte. Ich möchte, dass du frei bist.«

Er biss sich fest auf die Unterlippe, erwiderte nichts mehr darauf und verschwand in der Dunkelheit.

Obwohl ich das Sonnenlicht nur für eine kurze Weile nicht mehr gesehen hatte, tat die Helligkeit nun doch in meinen Augen weh. Es war so grell, dass ich mir mit der Hand einen Sonnenschutz formte. Doch trotzdem erhaschte ich unter meinen Fingern einen kurzen Einblick über das komplette Anwesen, hinter der Burg.

Ich konnte ein paar Ställe erkennen und ein paar Soldaten verschwinden sehen. Doch immer noch waren keine Bewohner in Sichtweite. Ob es die waren, von denen Gracely erzählt hatte? Waren sie vor ihrem Herrscher geflohen?

Kerrinia - Anuras AufstiegWhere stories live. Discover now