11. Kapitel

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Ich wusste nicht, wie lange ich schon so hier lag. Wahrscheinlich zu lange, weil ich Angst hatte, Gin könnte immer noch nicht eingeschlafen sein. Sie war zurück ins Zelt gekommen und hatte sich hingelegt, nachdem sie irgendein Messer geschliffen hatte. Die stumpfen Laute des aufeinanderprallenden Metalls hallten noch immer in meinen Ohren.

Immer wieder peitschte der laute Wind die Tropfen gegen die Zeltwand, wo ich lag, und ließ mich jedes Mal aufschrecken. Als ich nun schon zum gefühlt hundertsten Mal versuchte aufzustehen, gab ich mir endlich einen Ruck und setzte mich auf.

Leise krabbelte ich zum Eingang und öffnete den Reißverschluss. Ein Blick über meine Schulter verrriet mir, dass Gin noch tief und fest schlief. Sie schnarchte sogar etwas.

Als ich den Stoff zur Seite schob, sah ich erst mal, wie finster und unheimlich der Himmel wirklich aussah. Dicke ölige Wolken verschlangen das restliche Blau immer mehr, schleierhafter Nebel hing dicht über unseren Zelten, kalter Wind fegte durch die Umgebung, als er bereits durch meine Kleidung pfiff. Ich brauchte meinen Mantel, um rauszugehen, so viel war sicher. Gerade als ich wieder zurückwollte, fiel mein Blick auf etwas, was mir fast mein Herz zerriss. Meine Augen füllten sich mit brennendem Salzwasser und die enorme Wut, die plötzlich in mir entstand, trommelte heftig gegen meine Magenwand.

Der Junge, der Sklavenjunge, so wie Gin ihn immer nannte, saß wie ein Häufchen elend angelehnt an dem rechten Vorderrad der Kutsche. Seine Arme lagen über seinen aufgerichteten Knien, sein Blick war zum Boden gerichtet. Ein geprügelter Hund war nichts gegen ihm. Ich war in meiner Position erstarrt, wollte helfen, konnte aber nicht. Meine Finger krallten sich in den Stoff der labbrigen Zelttür, während sich meine Kehle schmerzvoll zuschnürte. Es war riskant, es zu wagen, aber er brauchte meine Hilfe genauso sehr, wie ich Antworten benötigte.

Plötzlich hörte ich ein leises Stöhnen.

Sofort schoss mein Kopf in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Gin musste aufgewacht sein! Sie wälzte sich auf die andere Seite, sagte aber keinen Mucks.

»Gin?«, flüsterte ich, um zu überprüfen, ob mein Gedanke stimmte.

Ein paar Sekunden hielt ich den Atem an, doch sie erwiderte nichts und ich konnte beruhigt ausatmen.

Ich schlich zurück ins Zelt und kramte die Tüte mit dem halben Stück Brot, welches ich vom Abend noch übrig gelassen hatte, hervor. Ich blendete aus, was für ein Leid er über dieses Land gebracht hatte und dass er vielleicht sogar gemeingefährlich war. Ich wollte ihn einfach nicht verurteilen, bevor ich mir nicht selbst ein Bild über ihn gemacht hatte und in ihm vielleicht meinen verschollenen Bruder wiederfand. Ich musste es einfach wagen, eher würde ich keine Ruhe finden.

Vorsichtig und mit viel Bedacht beugte ich mich über Gin und griff mit zitternder Hand nach dem weißen, weichen Stoff meines halb getrockneten Mantels. Sie rührte sich nicht, doch mein Herz raste vor lauter Aufregung.

Sie hätte sofort gewusst, was ich vorhatte und hätte ihm oder mir wer weiß was angetan, selbst wenn ich wichtig für sie war. In ihrer Wut konnte sie sicherlich sehr weit gehen.

Mit geschickten Fingern packte ich den Mantel und hob ihn hoch. Was ich jedoch nicht bemerkte, war der linke Ärmel, der über ihren Oberarm strich. Sie murmelte etwas vor sich hin, während ihr Arm zu zucken begann.

Mittlerweile schwitzte ich so sehr, dass ich eigentlich gar keinen wärmenden Mantel mehr benötigte. Ich wartete jeden Moment darauf, dass sich ihre Augen weiteten, doch nichts geschah. Sie blieb ruhig liegen und atmete tief ein und wieder aus.

Erleichtert nahm ich die vielen Stoffberge in meinen Arm und sank in mir zusammen.

Erst nach ein paar Sekunden wurde mir der Ernst der Lage wieder bewusst. Ich nahm all meinen Mut zusammen und machte mich auf.

Kerrinia - Anuras AufstiegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt