10. Kapitel

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Gin hatte uns einen geeigneten Schlafplatz beschafft.

Auf einem Stück vertrockneter Wiese, die im Hintergrund von gewaltigen Bäumen umrahmt wurde, baute sie zusammen mit Gloven drei Zelte auf, die in dem Sack auf dem Holzwagen gelegen hatten. Ganz abseits des Geschehens beobachteten Mary und Amanda das Treiben.

Immer wenn ihr Blick auf meinen traf, schaute ich ganz schnell wieder weg, hinüber zu dem armen, abgeschafften Jungen. Seine Beine waren eingeknickt, nur noch die schmutzigen Verbände, die seine Arme unweigerlich an den Holzbalken behielten, gaben ihm Halt. Sein Körper wirkte in dem dämmernden Licht nicht mehr allzu geschunden, obwohl er vom Schweiß und Regen glänzte. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er gen Boden sah, doch es musste unheimlich zerknirscht ausgesehen haben.

Wie groß war der Wunsch danach, einfach auf ihn zuzulaufen, und ihm eine Schüssel Wasser zu trinken zu geben, ihn loszubinden und ihm ein paar Fragen zu stellen.

»So!«, rief Gin laut. »Was sagt Ihr nun?«

Ich drehte mich um und betrachtete die drei großen Zelte, wie sie sorgfältig nebeneinander aufgebaut worden waren.

»Für Euch und mich, für Eure Schwestern und für unsere beiden Wachen!«, teilte sie die Zelte mit einer Hand in der Luft auf.

Fassungslos schaute ich sie an, während sie über beide Backen grinste. Ich mit Gin zusammen in einem Zelt?

Ich sah die Erleichterung auf den Gesichtern meiner beiden Schwestern, dass sie zusammen in einem Zelt schlafen konnten. Mein Blick wanderte hinüber zu dem Jungen. Es war klar, dass er kein trockenes Zelt, wo er Schutz vor dem ekligen Wetter finden konnte, bekam, aber wollten sie ihn tatsächlich im Regen sitzen lassen? Mir brannte die Frage schmerzlich unter den Fingernägeln, doch ich wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten. Hier vor allen anderen wollte ich nicht fragen.

Der Regen schien bald schon seine heftigste Stärke erreicht zu haben. Er war so laut, dass man noch nicht einmal mehr Gin verstand.

»Eigentlich dachte ich, wir könnten etwas Stockbrot über einem Feuer braten, aber falsch gedacht! Naja, was soll's! Dann müsst ihr es eben roh essen!«, schrie sie gegen die Lautstärke des prasselnden Regens an.

Meine Schwestern sahen so überhaupt nicht begeistert davon aus. »Das heißt, wir sollen rohen Teig essen?«, fragte Mary angewidert.

Gin lief auf die beiden zu, in der Hand einen Beutel mit Teig. »Ich könnte euch auch einfach den Mund mit diesem Teig stopfen, ihn antrocknen lassen und zunähen!«

Unsanft ließ sie den Beutel in ihre Hände fallen und kam mit einem verschmitzten Grinsen wieder zurück.

»Wir beide essen auch gleich!«, sagte sie mir mit dem Zeigefinger auf mich gerichtet.

Immer noch geschockt über ihre Worte an meine Schwestern, sah ich ihr nach, ehe ich zu Mary schaute. Sie warf die Tüte auf den Boden und verschwand in ihrem Zelt. Hatte ich etwa wieder so was wie Tränen in ihren Augen gesehen, oder war es bloß der Regen auf ihren Wangen?

Amanda sah mich eine Zeit lang an, nahm den Beutel vom Boden und folgte ihr schließlich.

Ich erinnerte mich an Gins scharfe Worte mir gegenüber. Hatte sie mir wieder drohen wollen, was das Essen betraf, oder war es doch nur eine strenge Ansage gewesen?

»Und ihr haltet Wache! Beobachtet diese Mädchen«, rief Gin den beiden Schmetterlingssoldaten zu, die sofort Haltung annahmen und sich in Position stellten.

»Sie werden schon nicht abhauen«, nahm ich sie in Schutz, obwohl ich mir bei dieser Aussage nicht ganz sicher war.

»Es geht nicht nur darum. Seit den Aufständen der Moorinter kann man sich bei Nacht überhaupt nicht mehr sicher fühlen!«

Kerrinia - Anuras AufstiegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt