Juliana: "Meeresrauschen" von hope_ful

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Willkommen. Heute geht es auf die hohe See auf das Schiff MYSTERY, unter der Führung von hope_ful.

Während mir die Geschichte an sich gut gefallen hat, möchte ich doch gerne über einige Punkte noch sprechen. Der trivialste zuerst: Mir waren die Kapitel maßgeblich zu lang. Mir ist bewusst, dass das auf Wattpad ein Streitthema ist, gefangen irgendwo zwischen "Das Interesse derjenigen, deren Aufmerksamkeitsspanne zu kurz ist, um ein etwas längeres Kapitel zu lesen, ist für mich unbedeutend" und "Man muss den Leuten geben, was ihnen gefällt. Außerdem bekomme ich in Summe für mehr Kapitel mehr Votes".

Aber ich würde deine Kapitel etwa auf 5000 Wörter schätzen, liege ich damit in einem richtigen Bereich? Ich kann zumindest sagen, dass ich für die meisten etwa eine halbe Stunde gebraucht habe, wenn ich nicht abgelenkt wurde. Und ich weiß, letzten Endes kann ich damit nur für mich persönlich sprechen, aber ich finde es anstrengend, so lange auf einen Bildschirm zu schauen, ohne das "Belohnungsgefühl" eines abgeschlossenen Kapitels zu haben. Die Kritik gilt insbesondere, weil in den Kapiteln mehrere Szenen bzw. Handlungsabläufe abgedeckt wurden, es also eigentlich auch nicht inhaltlich zwingend war, sie so lang zu gestalten. Ich weiß aber, dass es hier sicherlich Leute geben wird, die das anders sehen.

Das sei aber nur am Rande gesagt, ich wollte es nur am Anfang einmal angesprochen haben, andere Punkte sind für mich nämlich wichtiger. Ich habe eben erwähnt, dass ich die Kapitellänge anstrengend fand. Möglicherweise hat aber noch ein anderer Punkt zu diesem Gefühl beigetragen: Wiederholungen von Charakterisierungen.

An sich finde ich, deine Charakterisierungen gelingen dir gut. Ich kann die Figuren gut auseinanderhalten, habe ein Bild von ihnen vor Augen (eine kleine Einschränkung dazu später) und hatte auch Interesse daran zu sehen, wie sie sich weiter entwickeln.

Aber hier kommt die Einschränkung. Du hältst deinen Lesern diese Charakterisierungen auch in Leuchtbuchstaben entgegen. Rot umkringelt und dreimal unterstrichen. An einem gewissen Punkt hätte mir nicht zum dritten Mal gesagt werden müssen, dass Frau Hoffenmeier furchtbar und ein Drache ist. An einem gewissen Punkt hätte mir nicht zum dritten Mal gesagt werden müssen, dass Solea Tick, Trick und Track furchtbar findet. An einem gewissen Punkt hätte mir nicht zum dritten Mal gesagt werden müssen, dass niemand Jackson leiden kann.

Noch einmal: Mir gefällt, was du mit der Figurengestaltung machst und ich finde die Charakterisierung sowohl durch das Show don't Tell als auch durch direkte Beobachtungen von Solea gelungen. Gerade am Anfang braucht es solche klaren Bilder auch, ich möchte nicht behaupten, dass du sie hier streichen solltest. Aber dadurch, dass du es noch einmal und noch einmal in direkter Charakterisierung wiederholst, ziehen sich die Beschreibungen - und daher möglicherweise auch die Kapitel.

Verbesserungsvorschlag: Es würde meines Erachtens ausreichen, wenn Solea irgendwann nur noch zusammenzuckt, wenn sich Frau Hoffenmeier nähert. Da müssen nicht jedes Mal zwei Sätze folgen, wie gruselig die Frau ist. Genauso würde es nach einer Einführungsphase ausreichen, wenn sie Tristan anlächelt, ohne danach gedanklich anzumerken, dass sie ihn eigentlich gerade doch ganz nett findet. Hab ein bisschen Vertrauen in deine Leser, das verstehen sie dann schon.

Ein weiterer Punkt, über den ich gerne sprechen würde, wäre der sogenannte Initiating Incident (auf Deutsch wahrscheinlich etwa "auslösender Moment"). Ein kurzer Exkurs, was damit gemeint ist. Alle Geschichten haben einen Initiating Incident. Es ist die Handlung, das Ereignis, das die ganze Erzählung in Gang setzt. Dabei wird die Hauptfigur aus ihrem gewöhnlichen Alltag gerissen und die Geschichte nimmt ihren Lauf (z. B. Klopfen 13 Zwerge an deine friedliche Hobbithöhle oder du gewinnst beim Kartenspielen Tickets für die Titanic). Normalerweise findet sich dieser Moment im ersten Kapitel oder in den ersten Kapiteln einer Geschichte. Selten findet er auch vor dem ersten Kapitel statt und die Hauptfigur befindet sich dort schon mitten im Problem. Der Initiating Incident steht damit im Konflikt, dass auch Figuren eingeführt werden müssen und nach seinem Auftreten dafür keine Zeit mehr ist. Sein korrekter Zeitpunkt ist daher ein Drahtseilakt.

Das Problem bei deiner Geschichte: Dein Initiating Incident (Solea findet den Ring) befindet sich in Kapitel 7 von 16. Heißt, du bist fast mit der Hälfte deiner Geschichte durch, bevor das passiert, was manch ein Leser als "das Spannende" bezeichnen würde. Für mein Empfinden war das deutlich zu spät. Ich hatte mich bestimmt schon drei Kapitel gefragt, wohin die Geschichte jetzt gehen soll, wo ich die entscheidenden Charaktere kenne.

Hier würde ich dir empfehlen, etwas besser auf die Balance zu achten. Ja, man muss Figuren zuerst kennenlernen und die Szenen an sich (Tristan und der Kaffeebecher, die Betreuungssession der Drillinge und Emilys Auftritt) sind auch gelungen. Aber es hat der rote Faden gefehlt, der dazu geführt hätte, dass ich unbedingt hätte weiterlesen wollen. Ohne den bleiben die Szenen nämlich etwas effektlos. Wenn ein roter Faden vorhanden ist, hat jede Szene (im Idealfall) eine eigene Bedeutung, die in diesen roten Faden mit hineinspielt, weil man sich mehr Fragen stellt, mehr Querverbindungen ziehen kann und möchte.

Aktuell liest sich deine Geschichte aber bis zu dem Ring-Vorfall allerdings eher wie eine Auflistung alltäglicher Geschehnisse auf einem Kreuzfahrtschiff und das kann, wenn es auch sehr glaubwürdig und für sich genommen unterhaltsam geschrieben ist, leicht zu Langeweile führen.

Ich denke, alle meine bisherigen Hinweise kann man wie folgt zusammenfassen: Straff deine Erzählung ein bisschen. Es geht nicht darum, das Tempo allgemein zu erhöhen, ein langsames Erzähltempo ist Geschmackssache und das möchte ich hier nicht in Frage stellen. Aber das ist nicht gleichzusetzen mit Ausschweifigkeit, die ich in verschiedenen Aspekten gesehen habe.

Einen letzten Punkt möchte ich gerne noch anmerken, der damit überhaupt nicht im Zusammenhang steht: Wörtliche Rede von Kindern. Es ist schwer, Kinder in Geschichten sprechen zu lassen, weil sich insbesondere Kleinkinder häufig nicht so kohärent ausdrücken, wie wir das in geschriebener Sprache gerne hätten. Aber ein siebenjähriger, der Dinge sagt wie

"Na, sieh mal einer an wer auch da ist. [...] Wenn das nicht unser Kindermädchen Solea ist."

oder

"Achte auf deine Wortwahl, junge Dame. Fluchen vor Kleinkindern kommt nirgendwo gut an. Wir wollen doch nicht, dass hier jemand seinen Job verliert.",

da ist für mich die Glaubwürdigkeit letzten Endes doch flöten gegangen. Kinder drücken sich deutlich simpler aus und vor allem dauert es deutlich länger, bis Fähigkeiten wie unterschwellige Drohungen wie "Wir wollen doch nicht, dass hier jemand seinen Job verliert" vom Abstraktionsgrad her verstanden werden können. Die einzige Ausnahme hier bildet "Achte auf deine Wortwahl, junge Dame.". Dass die Kinder das von ihren wohlhabenden Eltern schon einmal mitbekommen und dann wiedergegeben haben könnten, kann ich mir vorstellen.

Das wären jetzt die Hauptpunkte, die ich ansprechen wollte. Es gab noch ein paar kleine Logikstolperer (z. B. Woher bekommen die Drillinge die Sahnetorte und wie blind ist Solea, sie zu übersehen?), aber das war nichts, was ich als sonderlich schlimm empfunden hätte. Ich habe kurz in dein Ende gelesen und glaube, dass du das schlüssig aufgebaut und aufgelöst hast, soweit ich das beurteilen kann. Verbesserungspotential sehe ich tatsächlich hauptsächlich anfänglich im roten Faden und im Erzähltempo, die Stärken in den scharf gezeichneten Charakteren und des Mystery-Falls, der sich ab der Mitte entspannt.

Alles in allem kann ich die Geschichte also durchaus empfehlen, wenn man sich auf ein Kreuzfahrtschiff mit mysteriösen Passagieren, netten und nicht so netten Jungs und einer Doppel-M entführen lassen möchte.

Anmerkungen zur Geschichte oder zu den schreibtheoretischen Anteilen gerne in die Kommentare.

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