Kapitel 19

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Seine Aussage spielt sich immer wieder, immer lieblicher in meinem Kopf ab. Er kann mir nicht böse sein. Das ist doch gut. Also würde er mich niemals anschreien, wenn ich einen Fehler mache. Er lächelt ja immer noch, selbst als ich den Blickkontakt abbreche und weiter die Wurzeln von der Erde befreie. "Wenn die Wurzeln gelb sind, können Sie diese dann aussortieren." Ich muss fachsimpeln, sonst werde ich nervös und wenn ich nervös werde, kriege ich Schluckauf und dann juckt auch noch das Muttermal auf meiner Nasenspitze und dann, wenn ich daran denke, passiert genau das - wie jetzt! Na toll, jetzt bemerkt er sicherlich, wie unendlich ich verliebt in ihn bin. Aber wenn er mir nicht böse sein kann, dann kann er sich auch einfach in mich verlieben. "Ist diese Wurzel also noch intakt?" Er hält es mir hin, doch ich bin im ersten Augenblick zu sehr von seiner Hand abgelenkt. Erde sieht an Händen nicht schön aus und doch schafft er es, die Ausnahme zu bilden. Unglaublich. "Ja", murmele ich, bevor mir ein lauter Hickser entweicht. "Können Sie nur mir nichts verübeln oder auch anderen Mitarbeitern?" Sollte nicht nur ich dieses Privileg haben, werde ich eifersüchtig.

"Keine Sorge. Sie sind die Einzige." Ich schnurre innerlich zufrieden. Besser für ihn. "Wie kamen Sie auf die Idee, sich eine Erbsenpflanze zuzulegen?" "Ich habe mich ein wenig schlaugemacht und dann habe ich sie im Internet gesehen." Er beendet seinen Satz, um ein abgestorbenes Wurzelgeflecht hochzuhalten. "War wohl falsch, sich von der Optik blenden zu lassen." "Das sagt man sicherlich oft in Ihrer Welt", erwidere ich, ohne darüber nachzudenken. Erst, als er seine Augenbrauen zusammenzieht, tritt meine Schamesröte ein. Das hätte echt nicht sein müssen. Wieso muss die Unsicherheit aus mir sprudeln? Ausgerechnet jetzt? "Wie meinen Sie das?" Na toll. Jetzt muss ich es auch noch erklären. Und ich kann mich nicht einmal mit dem Abklopfen der Wurzeln beschäftigen, weil ich es schon erledigt habe! "Na ja", setze ich leiser an, während ich weiterhin die Wurzeln begutachte. Ihm sollte es nicht auffallen, dass ich so tue, als würde ich etwas herausfinden, wenn ich die toten Wurzeln drücke. "Ich habe oft gehört, dass Frauen aus Ihrem Lebensstil eher ... nicht so die gute Wahl sind. Aber Männer sind genauso schlimm, die eine Frau aus den Kreisen aus reinem Profit heiraten", gebe ich am Ende stumpfer von mir. Mein Blick peitscht ihn ohne jegliche Abneigung und Verurteilung zu unterdrücken. Er kennt sowas sicherlich.

"Sprechen Sie weiter, Shirin. Sie scheinen ein interessantes Gedankengut zu haben." Will er mich gerade provozieren oder was bedeutet dieses kleine Lächeln auf seinen Lippen? "Sie wissen sicherlich, wie es in solchen Kreisen zugeht." "Sie wissen es sicherlich besser." "Ich habe genug gehört, um es zu wissen." "Erzählen Sie es mir bitte, Shirin. Damit ich weiß, vor wem ich mich zu verstecken habe", bittet er mich so ... charmant und sanft und so ... hübsch. Oh Mann, es ist wirklich warm hier. Ich gerate seinetwegen ins Stocken und jetzt strahlt auch noch die untergehende Sonne aus der Glaswand hinter mir auf seine Stirn und zum Teil auf seine wunderschönen Augen. "Reiche Schnöselorganisationen vermitteln ihre Kinder untereinander, um mehr Gewinne für ihre Geschäfte zu generieren. Die würden sogar Geschwister miteinander verkuppeln, wenn es möglich wäre." Daraufhin schimmert Belustigung in seinen Augen. "Noch was?" "Viele Ältere gehören irgendwelchen Sekten an und wenn ein jüngerer Entrepreneur dazugehören möchte, muss er ein Ritual durchführen. Meistens mit der Frau des Ältesten und Mächtigsten. Die haben eine Vorliebe für Polygamie und gravierende Altersunterschiede", gebe ich am Ende abwertend von mir. Allein der Gedanke daran lässt mich angeekelt erschaudern.

"Sie haben so etwas aber nicht gemacht, oder?" "Trauen Sie es mir etwa zu?" Ist das eine Falle? Lächelt er deshalb? Deuten seine trommelnden Finger auf die Ungeduld hin, ins Fettnäpfchen zu treten, damit er mich feuern kann? "Ich weiß nicht", murmele ich, als ich meine Lider zusammenkneife. Ich möchte nur nachdenklich wirken, denn eigentlich würde ich ihm so etwas niemals zutrauen. "Gab es viele Frauen, die Sie um ihre Finger wickeln wollten?" "Sie scheuen sich auch wirklich nie, private Fragen zu stellen." "Die sind gerechtfertigt!", erwidere ich, als ich die tote Wurzel auf die Tüte klatsche. "Sagen Sie mir die Wahrheit." "Was ist die Konsequenz, wenn ich es nicht tue?", fragt er herausfordernd, als er sich zu mir vorbeugt. Ich will gerade zur Gegenantwort ansetzen, da halte ich inne. Was soll ich darauf antworten? Seit wann ist er so schlagfertig? Und wieso nehme ich erst jetzt sein Parfüm wahr? Seine Hand stützt seinen angewinkelten Oberkörper ab, ganz nah an meinem halb frei liegenden Knie. Ich muss wieder an den Moment in seinem Auto denken. Wie nah wir uns waren ... und als er dann meinen Unterarm festhielt. Gerade habe ich das Gefühl, dass es sich wiederholt.

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt