Kapitel 42

3.8K 365 292
                                    

Wir stehen gerade vor dem Haus meiner Eltern. Als ich ausgezogen bin und zwei meiner Brüder sich selbstständig gemacht haben, konnten sie endlich die viel zu kleine Wohnung verlassen. Miran hält gerade die Gastgeschenke für Mama und Baba in seinen Händen, während ich seinen Kragen richte und sein Hemd glattstreiche. "Du siehst gut aus", schnurre ich. Miran lächelt bescheiden und blickt auf die Geschenke hinab. Ich liebe die feinen Fältchen, die manchmal um seine Augen entstehen. "Bereit?" "Wann immer du es bist." Mein Hickser ist Antwort genug. Ich klingele nervös, spüre das Ziehen in meinem Bauch, als ich die Melodie und daraufhin Schritte höre. Mama strahlt, als sie uns sieht und zieht mich sofort in ihre Arme. Mein Herz schlägt ganz aufgeregt. Ich werde ganz verlegen, weil ich kleine Tränen in meinen Augen spüre. Miran stellt die Geschenke auf dem Schuhschrank ab, um meine Mutter zu begrüßen. Ich nehme so lange meine Brüder und Baba in den Arm. Miran überragt alle mit seinen 1.96. Nennt es Faszination, nennt es Liebe, aber selbst das macht mich gerade unfassbar stolz. Mama latscht entzückt mit den Geschenken ins Schlafzimmer, während wir uns im Wohnzimmer hinsetzen. Wie ich sehe, haben meine Eltern die Empfehlung angenommen, zwischen den ganzen traditionell gehaltenen Möbeln einige Pflanzen zu platzieren. Mit Palmen kann man nie etwas bei einer kurdischen Einrichtung falsch machen.

Ich bediene mich sofort an den ganzen Knabbereien, während Miran sich bescheiden zurückhält und seine Hände reibt. Er braucht nicht nervös zu sein. Mama würde mich am liebsten in eine Tüte packen und ihm ohne Weiteres übergeben. Ich höre ihre Schlappen schon laut im Flur widerhallen, weil sie es gar nicht abwarten kann. "Kommen deine Eltern noch?", fragt sie, als sie ihm das Tablett mit den Gläsern Wasser hinhält. Miran nimmt für mich stellvertretend auch eins. "Nein." "Warum? Wir müssen sie doch kennenlernen!" "Sie sind tot." Ich verschlucke mich fast an den Sonnenblumenkernen, greife deswegen hektisch zum Wasser. Ich bin überfordert. Ist der Vater wirklich an seiner Krankheit gestorben oder wie habe ich das zu verstehen? Ich sehe, wie Ali sich betreten über seine Stirn fährt und wie Mama kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. Sie war schon immer besonders sensibel, vor allem bei solchen Themen. Mama verstummt komplett, viel zu überfordert mit der plötzlichen, nahezu trocken formulierten Information. Baba räuspert sich und setzt sich neu auf. "Bedien' dich doch, mein Sohn." Daraufhin greift er nach der Packung Baklava, die Miran als Geschenk gebracht hat. Ich mag die mit Walnüssen mehr, aber Miran erleidet immer einen halben Panikanfall, wenn ich ein Stück essen möchte. Ich konnte ihn für die Pistazien desensibilisieren, aber Walnüsse sind ein noch schwierigeres Thema für ihn, obwohl ich sie oft genug gegessen habe!

"Als was arbeitest du, Bruder?", fragt Adyan, mein zweitältester Bruder. "Er ist mein Chef", mische ich mich ein. Ich möchte Miran ungern in eine weitere unangenehme Lage bringen, die mit seinem Vater verbunden ist, dennoch kann ich ihn nicht vor den ganzen Fragen bewahren, die sich aber immerhin in eine pragmatischere Richtung ziehen. Es freut mich, dass meine Brüder sich gut mit ihm verstehen und auch Baba scheint zufrieden zu sein. Etwas anderes wäre auch überhaupt nicht zu erwarten. Miran muss sich nicht bemühen, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Er ist der Standard. Mich irritierten nur manchmal seine Hände, die er immer wieder aneinanderreibt. Was stört ihn? Stinke ich? Ich muss Mama sowieso beim Anrichten des Essens helfen, also schnüffele ich unauffällig an meinen Achseln. "Mama, stinke ich?" Ich strecke meine Arme aus, doch sie verneint es. An mir kann es also nicht liegen. Mich beschäftigt immer noch seine Aussage über seine Eltern. Wären sie wirklich gestorben, dann hätte ich es doch mitbekommen. Entweder durch ihn oder Narin. Wissen sie eigentlich von mir Bescheid? Was hält die Mutter von mir? "Wie lange ist der Verlust schon her?", fragt Mama gedämpft und nickt verdeutlichend ins Wohnzimmer. Ihre Frage überfordert mich, denn ich bin selbst ahnungslos. Miran hat nichts davon angesprochen und als ich ihn nach unangenehmen Themen gefragt habe, mit denen er nicht konfrontiert werden möchte, hat er sich dazu auch nicht geäußert. Daher kann ich als Antwort nur mit den Schultern zucken. "Glaube fünf Jahre. Sprecht ihn nicht darauf an."

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt