Kapitel 44

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Der Juli ist gefüllt mit Listen, Ausflügen zu Möbelmärkten und gemeinsamen Abendessen bei Miran oder mir. Ich kann gar nicht still halten und schlage immer neue Geschirrsets vor, während er artig nickt und sagt, dass ich entscheide. Was die Wohnsituation angeht, sind wir noch auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen. Miran möchte, dass ich zu ihm ziehe und ich möchte meine Oase nicht verlassen, die jedoch viel zu klein für zwei auf Dauer ist. Die Lösung ist eine neue Wohnung - Miran bevorzugt selbstverständlich ein Haus -, aber aktuell finde ich nichts, was mir gefällt. Sie sind alle so schrecklich modern und leblos mit ihrer kubistischen Form. Ich will keinen Schuhkarton, sondern ein Haus mit Charakter und Liebe - und bezahlbar. Hamburg ist verrückt, dass es drei Millionen Euro für ein Haus möchte, das doch mehr meinem Geschmack entspricht. Ich seufze gestresst. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Die Tage vergehen alle so schnell und doch habe ich das Gefühl, dass ich kaum etwas geschafft habe. Heute findet eine Feier zum fünfzigjährigen Jubiläum der Firma statt. Miran war nicht sonderlich begeistert, aber ich finde es toll. Außerdem gibt es Sushi. Zudem war ein der Großteil der Firma für eine Feier - meiner Umfrage sei Dank.

Noch sitze ich vor meinem Schminktisch und fächere mir Luft mit meinem Handfächer zu. Es ist 18:30 Uhr und schrecklich warm in meiner Wohnung. Ich schmiere meine Arme und mein Dekolleté mit einem parfümierten Schimmeröl ein und trage endlich roten Lippenstift auf. Es hat mich eine Menge Überwindung gekostet, aber etwas anderes passt auf mein weißes Sommerkleid mit den roten Blumen überhaupt nicht. Es passt auch zur Atmosphäre, denn bei den aktuellen 25 Grad wollen einige auf dem Hinterhof der Firma grillen. Ich hoffe, es gibt auch Garnelen. Ich packe meine Sachen zusammen, verstaue meine Schüsseln mit der Guacamole und der Thunfischcreme in die Tüte und laufe nach unten, wo Narin schon mit ihrem schwarzen Audi A7 auf mich wartet. Hamburg lebt um diese Uhrzeit, was für mich als ehemalige Dorfbewohnerin bis heute noch ein wahrer Kulturschock ist, aber ich mag es. Es erfüllt mich, dass um 19:00 Uhr noch Menschen - vor allem Frauen - unterwegs sind und Spaß haben. Narin grinst mich vielsagend an, als ich einsteige. Seitdem sie weiß, dass ich mit Miran zusammen bin, ist unser Verhältnis nur noch stärker zueinander. Als ich letztes Wochenende bei ihr übernachtet habe, haben wir über Gott und die Welt geredet. Dabei habe ich mich vorsichtig an ihr Verhältnis und ihre Ansicht zu ihren Eltern herangetastet. Sie hat sich schneller von ihren Eltern trennen können als Miran, aber es liegt auch daran, dass sie mit der Zeit eine bessere Verbindung zu ihren beiden älteren Brüdern aufbauen konnte. Ich freue mich schon, den Bruder bald kennenzulernen.

"Deine Ideen sind immer der Hammer, Shirin." Ich lächele verlegen. Bis heute bebt meine Brust jedes Mal voller Freude und Stolz, sobald man mich für meine Vorschläge lobt und sie sogar umsetzt. Ich habe es mir damals nie vorstellen können und habe es immer gemieden, zu sprechen und Tipps zu geben, weil ich dann immer von meinen Kollegen schief angeschaut wurde, woraufhin sie mich mit ihren passiv-aggressiven Aussagen verletzten und ausgrenzten. Und jetzt werde ich sogar erfreut empfangen, als Narin das Auto parkt. Marianne und Silke - der Grund, weswegen Miran mich damals im Gartencenter küssen musste und weswegen ich sie bis heute in meinen Bittgebeten erwähne - summen entzückt, als sie mich sehen und fächern sich Luft zu, was mir symbolisieren soll, dass ich heiß aussehe. Ich ziehe verlegen meine Schultern an und stoße meine Tüte grinsend gegen meine Stirn. Es ist so surreal, so viel Zuspruch zu erhalten. Kaum stelle ich meine riesigen Schüsseln ab, genehmigen sich schon die ersten meine Dips. Vor Freude zittern meine Hände schon. Es fehlt nur noch Miran, aber wo ist er?

"Weißt du, wo Miran ist?" Narin schüttelt den Kopf, als sie einen Cracker in meine Thunfischcreme dippt und zufrieden summt. "Wenn er zu spät kommt, verpasst er die Creme." "Ach, die kennt er schon. Er hat sie sogar von meiner Hand gegessen", erzähle ich ihr vom Essen bei mir, einen Tag, bevor wir zu meinen Eltern gefahren sind. Fast wäre es mir ausgerutscht, dass er es wirklich nur von meiner Hand essen wollte. Aus Spaß habe ich ihm dann meinen mit Thunfischcreme und Guacamole bedeckten Zeigefinger hingehalten und dieser schmuddelige Mann hat ihn tatsächlich in den Mund genommen! Dass ich sogar davon geträumt habe, bleibt mein kleines, schmutziges Geheimnis. Diskretion und so. Narin führt mich an eine leere Ecke, in der wir uns hinsetzen und die Mitarbeiter beobachten können, wie sie an den ganzen Grills stehen. Im Hintergrund läuft Good Time von Owl City und Carly Rey Jepsen, wozu Narin und ich im Sitzen tänzeln. "Wie laufen die Vorbereitungen?" "Wir haben noch keine Wohnung gefunden." "Miran wird ein Haus kaufen." Ich seufze. Alte, reiche Männer sind zu stur, was Immobilien angeht. Aber wo bleibt mein alter, reicher Mann?

Ich zücke mein Handy aus meiner Handtasche, da nehme ich eine große Statur im Augenwinkel wahr und schaue sofort auf. Miran ... in einem schwarzen Hemd ... und seine Ärmel sind hochgekrempelt. Mein Gehirn schnurrt. Es wird nur noch lauter, als ich sehe, dass die ersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet sind. Oh Gott, ich kippe gleich um. "Shirin?" "Hol mir was zu trinken", murmele ich Narin zu, während ich schamlos ihren Bruder begaffe, der gerade mit einigen Kollegen aus der Firma spricht. Habe ich diesen Mann je in einem schwarzen Hemd gesehen? Nein. Habe ich es mein Leben lang gebraucht? Absolut. Wären wir nicht am Arbeitsplatz, wäre ich schon längst indiskret, das kann ich ihm versichern. Meine Güte, mein Herz pocht ganz wild bei diesem Anblick. Sein schiefes Lächeln, wie er dabei nickt und dann durch sein volles Haar fährt. "Trink, bevor du austrocknest." Ich komme wieder zu mir. "Mhm", murmele ich gegen den Strohhalm. Lecker, Limonade! Ein wenig zu süß, aber dennoch passend. "Seit wann trägt der Chef schwarz?" "Dein passendes Gegenstück." Ich vermisse ihn. Er soll zu mir kommen, aber er wirkt gerade so ausgelassen, dass ich ihn nicht stören möchte. 

Stattdessen stehe ich auf, um meinen Teller mit den ganzen Leckereien zu befüllen. Ein wenig Sushi, ein wenig Nudelsalat und Luis ist so nett und schenkt mir eine Ladung Garnelen frisch vom Grill. Es gibt sogar ganz viele kleine Schälchen mit Soßen, oh! Ich fände es besser, wenn man einfach Flaschen hingestellt hätte, anstatt so viele kleine Plastikschalen, na ja. Welche nehme ich? "Ich empfehle diese hier." Ich schaue zum älteren Mann auf, der auf die dunkle Soße zeigt. "Ist das Teriyaki?" Er nickt und ich lächele ihn an. "Sie haben guten Geschmack. Ich liebe Teriyaki-Sauce!" "Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit." Der ältere Kollege ist sogar so nett, dass er mir zwei Schälchen auf meinen Teller. "Danke!" Zum Glück gibt es auch Mayonnaise - in einer Flasche -, sodass ich mein Sushi mit zwei leckeren Soßen genießen kann. Ich stapele vorsichtshalber noch eine Ladung Sushi auf meinen Teller für Narin, die schon zufrieden nickt, als ich mich wieder neben ihr niederlasse. Mir gefällt die Musik heute sehr. Maria Maria passt perfekt zur ausgelassenen Stimmung. "Einige Kollegen sind an dir interessiert", kichert sie, als sie sich ein Stück California Maki nimmt. "An was genau? Den Lippenstift?" "An dir, Shirin." Oh ... lasst das bloß nicht den Chef mitbekommen. Ich schaue verdutzt auf den Teller. Ich weiß nicht, wie ich mich bei solchen Aussagen zu benehmen habe. Klar, viele Eltern wollten mich schon als Schwiegertochter, aber das hier ist noch einmal etwas anderes.

"Nicht so bescheiden!" "Ich kenne sowas wirklich nicht. Ich finde es manchmal immer noch surreal, wenn ich die ganze Positivität hier erlebe. Gerade hat sogar jemand für mich Garnelen frisch vom Grill auf meinen Teller getan, weil ich sie so gern habe und zwei Schälchen von der Teriyaki-Sauce." Narins frecher Blick erweicht. Sie weiß, wie viel mir das bedeutet. "Das hast du dir auch verdient, Shirin. Du bist die Prinzessin der Firma." Oh Mann, das macht mich wieder ganz emotional. Am besten ist es, wenn ich mich mit den ganzen Leckereien ablenke und immer wieder zu meinem schnuckeligen Verlobten schaue, der unfassbar gut in Schwarz aussieht. Gott, mir bleibt schon fast die Luft weg. Seine gekrempelten Ärmel sind fast unverschämt, so gut sieht Miran damit aus. Die Venen glänzen durch die ganzen Lichter. Ich fächere mir deswegen schon Luft zu, weil dieser Mann mir wirklich die letzte Luft zum Atmen nimmt. Ich kenne es schon, dass er seine Hemden in seine Hose stopft, aber heute hat die Kombination und vor allem die silberne Gürtelschnalle etwas Unartiges an sich. Gott, ich bekomme wirklich kaum noch Luft!

"Shirin, du bist ganz rot!" Ich schaue mit offenem Mund zu Narin, die mich schon ganz besorgt ansieht. "Dein Bruder", murmele ich benebelt. Ich schlucke ... mein Hals ist angeschwollen. Ich bekomme deswegen keine Luft. "Narin." Ich schaffe es kaum weiterzusprechen. Mir wird schwindelig. Wo ist meine Tasche? "Allergie?" Ich nicke und Narin steht sofort auf. Meine Tasche, wo ist meine Tasche? "Shirin, wo ist dein Pen?" Mein Herz rast. Meine Tasche ist weg. "Ich weiß ... nicht", flüstere ich. Ich bekomme keine Luft. Mein Hals juckt von innen und von außen. "Sie ist weg." Meine Tasche ist weg. Sie war doch gerade noch hier. Mir ist schwindelig, als ich mich umschaue. Ich bekomme langsam Angst. Ich brauche Luft! "Miran!", schreit Narin. Ich schaue ihn Hilfe suchend an, während Narin ängstlich zögert, mich allein zu lassen. Miran kommt sofort zu mir. "Ruft sofort den Krankenwagen. Holt den Notfallkoffer!" Ich atme lautstark, ohne wirklich etwas davon aufnehmen zu können. Meine Augen tränen aus Angst. Ich spüre Mirans Hände um mein Gesicht kaum. Meine Sicht schwindet langsam. "Shirin, was hast du gegessen?" 

Ich kann nicht antworten, weil ich das Bewusstsein verliere, doch das ist mir lieber, als die Panik und Atemlosigkeit. 

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt