Kapitel 32

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Ich denke, ich bin heute aufgeregter als am ersten Arbeitstag. Ich hätte seit zehn Minuten schon im Auto sitzen und fahren können, aber stattdessen sitze ich vor meinem Schminkspiegel und schüttele unruhig die Schneekugel mit dem Big Ben, den Miran mir geschenkt hat. Mir entweicht ein tiefes Seufzen. Hätte ich doch einfach das Angebot angenommen, noch länger in London zu bleiben, dann müsste ich an einem Montagmorgen nicht so nervös sein. Vielleicht kann ich mich heute noch krankmelden. Aber ich habe es Miran versprochen! "Mann", murmele ich verzweifelt. Ich muss jetzt wirklich los, wenn ich nicht zu spät kommen will. Durch das ganze nervöse Prokrastinieren habe ich mir nicht einmal etwas zu essen eingepackt. Vielleicht halten mich meine Hickser satt, die mich bis ins Auto und zum Parkplatz begleiten. Ich bin so verpeilt, dass ich sogar die Schneekugel mitgenommen habe. Das wird heute ein Desaster. Ich schultere angespannt meine Tasche, als ich durch den Eingang laufe. Mein Herz rast. Ich habe das Gefühl, meine Kopfhaut beginnt zu schwitzen. Hoffentlich beeinflusst das nicht meine Frisur. Meine Augen treffen auf die erste Person, die mich anschaut und sofort wende ich den Blick ab. Ich darf mich nicht stressen, nur fällt mir allein das Unterdrücken des Überdenkens so schwer. Fast bin ich versucht, die Treppen zu nehmen, um keiner Person im Aufzug begegnen, aber das werde ich niemals pünktlich schaffen.

Oh Gott. Ich halte sofort in meiner Bewegung inne, als ich die ganzen Männer vor dem Aufzug stehen und sprechen sehe. Nein, das ist zu viel für den Anfang. Ich ... ich nehme einfach den nächsten. Aber ich bin so mutig und trete näher an die Männer heran. Dabei bete ich, dass ich nicht hicksen muss. Gleichzeitig bete ich, dass der Aufzug schnell kommt und diese Männer mitnimmt. Ich darf erleichtert aufatmen, als mein Gebet erhört wird, nur verfluche ich die Männer dafür, dass sie mich angucken, als sie in die Kabine steigen und logischerweise dieser den Rücken zudrehen, weil so etwas normal ist und auch ich tue das immer im Aufzug, aber jetzt machen sie mich nur noch nervöser als ich schon bin und oh mein Gott, mein Hicksen erreicht eine neue Dezibelzahl! Warum schauen sie mich aber so an? Wieso hält der eine Braunhaarige Tür offen? Hinter mir räuspert sich jemand und ich weiß sofort, wer es ist. "Gentlemen, schaffen Sie doch für die Dame etwas Platz." Ich ziehe verlegen meine Schultern an. Meine Schneekugel drücke ich fester an meine Brust, als ich meinen Blick senke. "Geht schon. Ich kann warten", murmele ich. "Nicht doch." Gott, er berührt meinen Rücken! Vor allen Mitarbeitern! Ist er wahnsinnig?!

Ich trete versteift in die Kabine, in der die Mitarbeiter so nett sind und mir sogar noch mehr Platz machen. Das brauche ich gerade. Es ist besser, wenn das Personal einen Sicherheitsabstand zu mir hält, denn manchmal schleudern mich meine eigenen Hickser zurück. Das sollte ich auch irgendwann Mir-, ... meinem Chef mitteilen, denn er steht zwar neben mir, aber ich sehe, dass seine Schulter hinter meiner ist. Diese Fahrt ist ein wahres Auf und Ab. Kaum steigen zwei oder drei Kollegen aus, steigen neue hinzu. Und dann schauen sie mich auch noch an! Ich stehe zwar im Mittelpunkt der Kabine, aber auch nur, weil mein Chef mich diskret aufhält, sobald ich versuche, in eine Ecke zu flüchten. Ich wusste nicht, dass er eine hobbymäßige Mauer ist. Im 17. Geschoss steigen dann auch die letzten Mitarbeiter aus. Ich kann endlich durchatmen! Mein juckendes Muttermal gibt sofort Ruhe und ich bin mir sicher, dass mein Zwerchfell auch gleich aufhören wird. "Ist das eine Schneekugel in deiner Hand?" "War keine Absicht", murmele ich. Heute wird irgendetwas schieflaufen. Ich spüre es. Genauso spüre ich, wie mein Herz in meinen Rock rutscht, als der Aufzug zum Stillstand kommt. Oh Gott, ich muss jetzt aussteigen.

Narin sitzt gelangweilt an ihrem Handy hinter der Rezeptionstheke, doch kaum hört sie unsere Schritte, schaut sie auf. Ich bleibe sofort stehen, mein Chef stößt indiskret gegen meine Schulter und Narins Augen weiten sich. "Wer ist diese gutaussehende Frau?" Sie springt von ihrem Stuhl, um auf mich zu zurennen und mich in ihre Arme zu ziehen. Aus Angst, dass ich meine Schneekugel fallen lasse, drücke ich sie meinem Chef in die Hände und scheuche ihn diskret weg. "Endlich! Ich war so einsam ohne dich." Das ist Balsam für meine strapazierten Nerven. Ihr inniges Knuddeln beruhigt mich unheimlich stark. "Hallo", murmele ich. "Hi", seufzt sie erleichtert, bevor sie sich von mir löst. "Ich habe dich so vermisst, Shirin. Nie wieder gehst du auf eine Geschäftsreise." Nach der Messe werde ich es auch höchstwahrscheinlich nicht anstreben. Ich nicke zerknirscht und sie bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt. "Was ist los? War der Chef pissig?", flüstert sie am Ende. Meine Augen schielen sofort an ihr vorbei, doch zum Glück ist unser Chef schon in seinem Büro. Sie muss aufpassen. Er kann plötzlich hinter einem stehen. "Nein. Er war ganz nett. Es gab einige Probleme auf der Messe. Ich kann es dir ja beim Essen erzählen." Jetzt muss ich erst einmal meine Pflanzen begrüßen.

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt