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Zitternd und mit nackten Füßen hockte sie auf dem kalten Fliesenboden des winzigen Badezimmers. Fest umklammerte sie das kleine Messer in ihrer Hand. Jedes Pochen an der Tür ließ sie zusammenzucken und lautes Gebrüll ihres Vaters dröhnte von draußen zu ihr herein. Ihr Atem jagte wie ein wildes Tier durch ihre Lunge. Quälend langsam schaffte sie es, die Faust mit dem Messer zu heben, ihre Muskeln gehorchten ihr kaum. Tränen bahnten sich unaufhaltsam einen Weg über ihre Wangen, während Wellen der Wut und Verzweiflung sie verschlungen, eine nach der anderen. Heute Abend war etwas in ihr zerbrochen. Sie blieb winzig und alleine zurück. So durfte es nicht bleiben.

Ihre Fingerknöchel um den Griff traten weiß hervor - als Melissa mit einem Mal das übermächtige Gefühl ergriff, dass sie in alle Richtungen zugleich gezerrt und herumgeschleudert wurde. Ihre Sinne explodierten schier und Ihre Glieder kribbelten, wie von einem Stromschlag getroffen. Gleichzeitig breitete sich eine eigenartige Taubheit in ihr aus, bevor sie das Gefühl absoluter Schwerelosigkeit erfasste. Kurz schien sie durch ein Vakuum zu schweben, einen weiteren Moment später berührten ihre bloßen Fußsohlen feuchten Waldboden - ohne dass sie sich bewegt hätte. Sie stolperte und Dornengestrüpp zerkratzten ihr die nackten Knöchel, bevor sie sich wieder fing.

Ungläubig starrte sie in die Dunkelheit. Nur schemenhaft machte sie die Gestalten der riesigen Bäume aus, die sie stumm aus Fratzen angafften, kreiert von ihrer eigenen Fantasie. Die Kronen hoben sich vage vom mondbeschienenen Nachthimmel ab.
Sie versuchte, ihre rasenden Gedanken zu sortieren. Wie war sie hierhergelangt?

Melissa atmete tief ein. Stück für Stück beruhigte sich ihr Atem. Endlich Stille. Kein verstörendes Gebrüll, das durch die Badezimmertüre drang. Kein schweres Hämmern. Nur leises Knacken und das Rauschen der Blätter. Sie legte eine Hand auf die Rinde einer Eiche und betastete mit ihren Fingerspitzen ihre raue Unebenheit. Schließlich lehnte sie sich erschöpft gegen den dicken Stamm. Konnte das ein Traum sein? Aber dieser Wald war real, sie war tatsächlich hier.

Sie musste jede Kontrolle über ihren Verstand verloren haben.
Fröstelnd zog sie die dünne Strickjacke, die sie über ihren kurzen Pyjama trug, fester um ihren Körper. Die feuchte Waldluft drang mühelos durch alle Stoffschichten bis auf ihre Haut und schien durch diese hindurchzusickern. Der Herbst hatte bereits begonnen und die Nächte waren empfindlich kalt. Für einen Waldausflug war sie ausgesprochen unpassend gekleidet und ihr Körper zitterte heftig.

Melissa versuchte, es zu ignorieren. Es spielte keine Rolle.
Als sie vor wenigen Augenblicken, mehr Zeit konnte seit dem nicht vergangen sein, in dem Badezimmer gehockt hatte, hätte sie alles getan, um an einem anderen Ort zu sein. Um jemand anderes zu sein. So verzweifelt hatte Melissa gehofft, der Boden würde sich auftun und sie verschlucken und sie so weit wegbringen, wie es nur denkbar war. Doch insgeheim hatte sie genau gewusst, dass es nichts zu hoffen gab.

Und dann war es doch passiert. Der Boden hatte sich nicht geöffnet, aber eine Macht, die sie nicht verstand, hatte sie an einen anderen Ort gebracht, weg aus ihrer hoffnungslosen Lage. Doch hatte sich ihre Situation verbessert? Es gab noch immer niemanden, zu dem sie eilen, keinen Ort, an den sie Zuflucht suchen konnte. Der nächste Angriff konnte weiterhin hinter jeder Ecke lauern. Oder hinter jedem Baum. Wer wusste schon, was dieser Wald für sie bereit hielt. Das Universum - oder was auch immer - hatte sich mit ihr einen geschmacklosen Scherz erlaubt.

Melissa hob den Kopf. Instinktiv wendete sich ihre Aufmerksamkeit ihrer rechten Hand zu und sie zuckte zusammen, als sie die Leere in dieser bemerkte. Das Messer war weg. Sie musste es fallen gelassen haben, als in ihrem Kopf der merkwürdige Strudel wütete. Sicher lag es hier noch irgendwo. Kniend durchwühlte sie das Laub mit ihren bloßen Händen. Sie hatte sich kaum von der Stelle bewegt, es konnte nicht weit sein. Der pilzige Waldduft stieg ihr in die Nase und ihre Finger wurden steif von der Kälte, die der feuchte Boden ausstrahlte.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWhere stories live. Discover now