94

149 13 179
                                    

Sie erhob sich und tapste mit steifen Gliedern in ihr Zimmer. Nicht in die kleine Kammer, sondern in den Raum, den sie so viele Nächte mit Nicolas geteilt hatte. Vor dem Mantel mit dem roten Drachen blieb sie stehen, vergrub ihre Hände in den weichen Stoff und zog diesen an ihr Gesicht. Tief sog sie den Geruch ein. Noch immer hing sein Duft in dem Kleidungsstück. Er hatte diesen Mantel geliebt.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, nahm sie das Teil vom Haken und streckte ihre Arme in die Ärmel, bis Gewebe und Geruch sie vollkommen umhüllten. Dann glitt sie mit den Händen in die Taschen. Seit seinem Fortgang hatte sie sich Nicolas nicht mehr so nah gefühlt. Sie spürte, wie ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog. Alle Erinnerungen an die Zeiten mit ihm leuchteten hell in ihrem Geist. Wie er sich nachts an sie gekuschelt und tags Dutzende Male in den Arm genommen hatte. Wie sie zusammen Ausflüge unternommen hatten und das behagliche Beisammensein mit der Familie im Aufenthaltsraum. Sie erinnerte sich an Nicolas, wie er ihr bei der Schneeballschlacht beigestanden hatte und an die drei Wünsche, die er ihr heimtückisch gestohlen hatte.

Und immer wieder sein warmer Blick, verwoben mit dem ihren und seine sanften Worte, die ihr sagten, dass er sie liebte.

Er hatte hoffnungslos aufrichtig dabei gewirkt, Melissa hatte ihm jedes einzelne Wort abgekauft. Konnte das wirklich alles gelogen gewesen sein? Konnte sie sich so wenig auf ihr Gefühl verlassen und war sie derart leicht zu täuschen?

Eine einzige Nachricht hatte all ihr hart erkämpftes Vertrauen zunichtegemacht. Und Lias Worte hatten ihren Zweifel weitergenährt, bis die Wut und Enttäuschung übermächtig aus ihr herausgebrochen waren.

Melissa steckte die Hände in die Manteltaschen. In diesen befand sich normalerweise Nicolas Handy. Seit dem Angriff auf Adam trug er es stets bei sich, anstatt es im Auto zu belassen. Er hatte wert darauf gelegt, immer erreichbar zu sein. Jetzt fehlte das Gerät – natürlich. Nicolas hatte es mitgenommen, doch erreichbar war er nicht mehr. Auch die Autoschlüssel waren fort – was noch in den Taschen steckte, war sein Portemonnaie. Nachdenklich betastete sie das glatte Leder. Melissa war sich bewusst, dass ein Leben als Vampir anders funktionierte als das eines Menschen und dennoch erschien es ihr unpraktisch, ohne jedes Bargeld und ohne Kreditkarte unterzutauchen.

Als sie zum Aufenthaltsraum zurückkehrte, hatte sie einen Entschluss gefasst.

Kurz betrachtete sie die zerfetzte Leinwand, bevor sie sich, noch immer in den übergroßen Mantel gewickelt, auf einen der Stühle niederließ und nach ihrem Handy griff, das sie zuvor auf dem Tisch zurückgelassen hatte. Die Nummer, die sie brauchte, hatte sie lange abgespeichert. Sie wählte. Während sie dem Freizeichen lauschte, schweifte ihr Blick durch das Fenster über die weite Landschaft.

»Das ging schneller, als ich erwartet hatte.« Karis klare Stimme klirrte in ihren Ohren. »Möchtest du endlich Mitglied meiner erlesenen Familie werden?«

Einige Sekunden ließ Melissa die Vampirin warten, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.

»Ich will mit Helena sprechen.«

»Hmm ... Du hast meine Frage nicht beantwortet. Aber gut, du scheinst dringlichere Begehren zu haben. Also, warum sollte ich dir diesen Wunsch erfüllen?«

»Du kannst dir deine Spielchen sparen. Du wirst mich ohnehin mit ihr reden lassen.«

Die Vampirin stieß einen verächtlichen Ton. »Was macht dich da so sicher?«

»Du bist zu gespannt darauf zu hören, was ich von Helena möchte. Du kannst dir dieses Geheimnis unmöglich entgehen lassen.«

Ein Kichern erklang am anderen Ende, fast als würde ein junges Mädchen diesen laut erzeugen. »Du hast recht. In Ordnung, lass uns das Geplänkel abkürzen und ich stelle dich zu Helena durch. Ich hoffe, es lohnt sich, und du möchtest nicht nur von ihr hören, ob sie anständig behandelt wird.«

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt