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Nicolas erinnerte sich, wie die Vampirin seinen Horror völlig ignorierte. Als wäre es das Natürlichste der Welt, erklärte sie ihm, dass sie ihn für immer bei sich haben wollte. Er bat sie, ihn gehen zu lassen, er flehte und bettelte mit letzter Kraft, doch sie lachte nur hell auf und schüttelte vergnügt mit ihrem Kopf, als hätte er einen ausgezeichneten Scherz gemacht. Abermals versuchte er, sich zu erheben, doch mit einer unbegreiflichen Leichtigkeit drückte sie ihn zurück auf die Kissen und befahl ihm, entspannt zu bleiben.

Nicolas schluckte schwer bei dem Gedanken daran, wie sich der Mund der Vampirin seinem Hals genähert hatte – wie so viele Male zuvor. Doch dieses Mal spürte er nicht nur zarte Küsse, war nicht benebelt und umgarnt von ihren fordernden Berührungen, ihrer lockenden Stimme. Zum ersten Mal war ihm bewusst, wie sie ihn mit eisernem Griff festhielt, ihre Zähne seine Haut mit Gewalt durchdrungen und sie gierig sein Blut saugte. Sie hatte ihn nicht eingelullt, bis ihm nicht mehr klar war, wer und wo er war. Sie wollte, dass er wusste, was mit ihm geschah.

Und das sie dafür verantwortlich war.

Kalter Schweiß hatte seinen Körper überzogen und er war nicht mehr in der Lage gewesen auch nur eine Bewegung zu vollbringen. Doch der anfängliche Schmerz verflüchtigte sich schnell und das so vertraute Wohlgefühl stellte sich ein, eine Wärme, die seinen gesamten Körper durchdrang und die er bis dahin immer ihren zarten Küssen zugeschrieben hatte. Sie fragte ihn, ob es ihm gefalle und ob sie weiter machen solle bis zum Ende. Er wollte nicht, dass dieses Gefühl jemals wieder aufhörte. Mit letzter Kraft nickte er. Ein letztes Mal hörte er ihr leises Lachen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Als er erwachte, saugte er wie ein Verdurstender das Blut aus ihrem Handgelenk, als wäre es göttlicher Nektar. Wütend stieß er ein ums andere Mal seine ungewohnt spitzen Eckzähne in ihre Blutgefäße, die sich viel zu schnell wieder verschlossen. Verzweifelt hatte er sich in ihren Arm verbissen, als würde er sterben ohne ihr honigsüßes Blut – was zweifellos so gewesen wäre. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bett und diese Frau saß rittlings auf ihm, ihr Becken auf dem seinen. Lasziv hatte sie sich zu ihm vorgebeugt und bot ihm ihre Adern an. Die Gier, die ihn damals an ihr saugen ließ, hatte er in diesem Ausmaß nie wieder erlebt. Aber die Erinnerung würde ihn niemals verlassen.
Irgendwann entriss sie ihm ihr Handgelenk und erklärte, dass er genug hatte. Sie beugte sich zu ihm hinab und leckte ihm langsam die letzten Blutstropfen von den Lippen. Das war der Moment, indem er begriff, was er soeben getan hatte, was sie getan hatte. Was sie war.

Was er nun war.

Nicolas musste eine ganze Zeit geschwiegen haben, doch Melissa wartete geduldig auf seine nächsten Worte. Seine Stimme kratzte rau, als er weitersprach: »Als ich endlich ihr Haus verließ, war ich kein Mensch mehr.«

Zögernd öffnete Melissa den Mund. »Die Frau ... die Vampirin ... war das ...?

Nicolas schnaubte abfällig. »Ja ... das war Kari.«

Nachdem er begriffen hatte, was Kari mit ihm gemacht hatte, wollte er aufspringen, doch sie presste seine Schultern zurück in die Kissen und erklärte ihm, dass er sich entspannen sollte. Dass er sich auf seine Sinne konzentrieren sollte, welche von nun an viel intensiver reagieren würden, und auf seinen Körper, mit all seiner neuen Kraft und Anmut.

Doch nicht nur seine Sinne hatten sich verändert, auch ihre Faszination, die sie auf ihn ausgeübt hatte, war restlos verschwunden. Ihre Reize interessierten ihn nicht länger und ihr Geruch, der sich plötzlich so intensiviert hatte, stieß ihn ab. Seine Gedanken klärten sich und mit Bestürzung stellte er fest, wie lange er Tara und Charlotte alleine gelassen hatte.

Als die Vampirin anfing, ihr Becken rhythmisch auf seiner Körpermitte zu kreisen, stieß er sie angewidert mit all seiner neu gewonnenen Kraft fort. Noch immer hatte er keine Chance gegen ihre uralten Kräfte, dennoch hatte sie ihn überrascht angestarrt, bevor sie zu ihrem überheblichen Lächeln zurückfand. Kari war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. Betont langsam erhob sie sich von ihm und gab ihn frei, nicht ohne hervorzuheben, dass er jederzeit in ihrem Haus willkommen wäre. Er kehrte nie zurück.

Nicolas öffnete die Augen. Er hatte nicht bemerkt, dass er sie überhaupt geschlossen hatte.

Erst jetzt spürte er, dass Melissa ihre Hand auf seine gelegt hatte. Sanft lächelte sie ihn an. Er verstand nicht, dass sie noch immer neben ihm saß. Warum stand sie nicht an der Tür, bereit zur Flucht? Hatte sie ihm nicht zugehört, hatte sie nicht begriffen, zu was ein Vampir in der Lage war?

Fast flüsternd erklang ihre Stimme: »Was ist geschehen, als du zu deinen Schwestern zurückgekehrt bist? Waren sie wütend, weil du so lange fort warst?«

Nicolas Körper versteifte sich. Niemals würde er Taras Blick vergessen können, als er durch die Tür trat und nach Charlotte Ausschau hielt. Eine so tiefe Traurigkeit war ihm seit dem nicht wieder begegnet. Doch Tara hatte ihm keine Vorwürfe gemacht. Nie, in all den Jahren.

Er konnte Kari verzeihen, dass sie einen Vampir aus ihm gemacht hatte. Aber niemals, dass sie ihn davon abgehalten hatte, bei seinen Schwestern zu sein, als diese ihn brauchten.

»Charlotte war nicht mehr da, als ich wiederkam. Ein Fieber hatte sie erwischt und Tara hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihr zu helfen. Doch schnell war ihr das Geld für die Medizin ausgegangen und sie fing an, verzweifelt nach mir zu suchen. Aber ich war unauffindbar. Schließlich blieb Tara nichts weiter übrig, als Charlottes Hand zu halten und bei ihr zu bleiben, bis diese starb ... Ich jedoch war nicht für sie dagewesen.«

Nicolas spürte etwas feuchtes auf seinen Handrücken fallen. Erstaunt stellte er fest, dass es sich um einen Tropfen handelte, der von Melissas Wange gekullert war. Mit feucht schimmernden Augen sah sie zu ihm auf, bevor sie ihre Wange gegen seine Schulter sinken ließ. Die Erinnerung an den Tod seiner Schwester brannte in ihm wie eine offen Wunde. Doch Melissas vertrauensvolle Nähe und ihr warmer Körper an seinem fühlten sich an, als würde sich ein warmes Pflaster über diese Wunde legen.

»Als Amia dich um Hilfe gebeten hat, wolltest du nicht, dass es ihr so wie deiner Schwester geht.«

»Hmmm... so ähnlich.« Er erinnerte sich noch genau, wie das Kind auf ihn zugekommen war, als würde sie ihn seit Jahren kennen. Wie ihre kleine Hand seine gegriffen und er stockstarr dagestanden hatte, unfähig sich zu rühren. »Als ich Amia das erste Mal erblickte, dachte ich, ich halluziniere. Tara und ich, wir ähneln unserer Mutter, aber Charlotte kam völlig nach unserem Vater. Sie hatte seine braunen Augen und wilde braune Locken ...«

»... genau wie Amia.«

»Ja. Genau wie Amia. Ich muss sie lange angestarrt haben, bis ich begriff, dass es sich nicht um Charlotte handelte. Und noch länger, bis ich verstanden habe, was sie da von mir verlangte. Als Amia mich bat, ihrem Bruder zu helfen, fühlte es sich an, als würde das Universum mir eine zweite Chance geben. Ich konnte sie unmöglich wegschicken.«

Melissa nahm Nicolas Hand fester in ihre und verwob ihre Finger in seine. Lange schwieg sie.

»Wie ...« Melissa zögerte. Nicolas drückte vorsichtig ihre Hand als Aufforderung weiterzusprechen. Er hatte seine verborgensten Erinnerungen mit ihr geteilt. Schwerer konnte es nicht mehr werden.

»Wie wurde Tara zu einem Vampir?« Nicolas stöhnte auf.

»Tara! Tara brauchte nach meiner Rückkehr genau drei Tage, um herauszufinden, was mit mir geschehen war. Zugegeben, es war nicht sonderlich schwierig, ich verhielt mich alles andere als unauffällig, ich trank unkontrolliert und die Menschen in der Stadt verfielen langsam in Panik. Karis Leute hatten mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass ich entweder die Gegend verlassen oder zu ihnen zurückkehren müsse, bis ich mein neues Wesen besser unter Kontrolle hatte. Doch es war mir egal, was Kari wollte, es war mir egal, ob die Menschen herausfanden, was ich war. Tara hingegen verstand schnell, welchen Gefahren ich mich aussetzte. Schnurrstraks marschierte sie zu Karis Haus und verlangte, mit ihr zu sprechen. Sie machte ihr klar, was sie mir angetan hatte und Kari heuchelte Reue. Sie bot Tara an, ihren Fehler wieder gut zu machen. Sie sollte sich etwas aussuchen. Tara forderte nur, dass sie mich und alle, die mir nahestanden, ein für alle mal in Frieden ließe. Und dass Kari aus ihr ebenfalls einen Vampir machte. Und erst als Vampir hatte Tara mir wieder etwas entgegenzusetzen und war in der Lage, mich zu überredete ihr zu folgen. Lieber hatte Tara sich in eine Vampirin verwandeln lassen, als aufzuhören, sich um ihren kleinen Bruder zu sorgen. Und ich habe für den Rest der Ewigkeit einen Aufpasser an der Backe.«

Melissa entwich ein kleines Lachen, doch sogleich hielt sie sich erschrocken den Mund zu. »Tut mir leid. Das ist überhaupt nicht lustig.«

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWhere stories live. Discover now