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Direkt nach ihrer Rückkehr von den Klippen zog Melissa aus ihrem Zimmer, in dem jeder Gegenstand sie an Nicolas erinnerte, aus. Ein winziger Raum am Ende des Ganges stand noch leer und ohne zu Fragen schleppte sie ihre wenigen Habseligkeiten dorthin. Die Kammer bot nur ein Bett und einen Schrank mit kaum Platz dazwischen, um sich zu bewegen. Ein einziges Fenster gab den Blick auf den Park frei. Für Melissa war es genug. Sie schlief ohnehin den halben Tag. Oft hatte sie den gleichen Albtraum von der Entführung und den Fesseln, die ihr in die Handgelenke schnitten und sie an jeder Bewegung hinderten, bis sie glaubte, ersticken zu müssen. Doch wenn sie panisch erwachte, war niemand da, der sie beruhigte. Dann flüchtete sie in den Park und verkroch sich auf eine Bank, welche vor den Blicken aus dem Haus durch Büsche und Bäume geschützt war. Nicht einmal bei Regen machte sie eine Ausnahme. Sie zog einfach ihre große Kapuze über den Kopf und kauerte sich dennoch zusammengesunken auf die nasse Sitzfläche. Dort hockte sie Stunden, bis es spät genug war, um ins Bett zu gehen.

Melissa wollte es sich nicht eingestehen, doch ein kleiner Teil hoffte immer darauf, dass Nicolas sich irgendwo in Ihrer Nähe aufhielt. Vielleicht beobachtete er sie heimlich. Es hätte ein unheimlicher Gedanke sein können, aber für sie war er fast tröstlich. Die Hoffnung, noch einen Blick auf sein engelsgleiches Gesicht zu erhaschen, wollte nicht schwinden.

Nicolas ließ sich niemals sehen.

Ein einziges Mal hatte sie versucht, ihn zu kontaktieren, doch Tara hatte recht behalten, sein Handy war abgeschaltet und blieb es auch. Und er hatte ihr nicht eine Nachricht zukommen lassen. Nicht eine. Nur seiner Schwester hatte er seine Beweggründe mitgeteilt. Ein weiterer Stachel, den sie kaum ertrug.

Melissa glitt zurück in sich selbst und sperrte ihre Umgebung aus, so gut es möglich war. Nur das Nötigste sickerte durch ihre Wahrnehmung, nicht mehr als sie für die Bewältigung der wichtigsten Alltagsdinge benötigte. Den Rest klammerte sie einfach aus. Sie führte kaum ein Gespräch von mehr als zwei Sätzen, widmete sich keinerlei Aktivitäten, nahm an keiner Mahlzeit teil und aß fast nichts. Selbst das Trinken hätte sie vergessen, doch in diesem Punkt war Tara unerbittlich und Melissa hatte nicht die Kraft, sich mit ihr zu streiten. Sogar Lias Anrufe nahm sie nicht entgegen.

Im Gemeinschaftsraum hielt sie sich nicht mehr auf. Sie hatte das Gefühl, der Raum würde ihr die Luft zum Atmen stehlen. Selbst Amias Aufforderungen, mit ihr zu malen oder andere Dinge zu tun, kam Melissa nicht nach.

Wie eine leere Hülle schleppte sie sich durch die Tage, die unerfreulich langsam verstrichen. Und hatte sie einen trostlosen Tag hinter sich gebracht, stand sogleich der nächste vor der Tür.

Ein einziges Mal wagte Melissa es, Tara um ihre Einschätzung zu bitten, wie lange Nicolas fortbleiben würde – die Antwort war niederschmetternd.

Zwar war die Vampirin der Ansicht, dass dieser Zustand sich nicht als dauerhaft erweisen würde, doch nur, was diese selbst betraf. Nicolas hatte sich gezielt Melissas Gegenwart entzogen. Taras Meinung nach würde er zurückkehren, sobald Melissas Lebenszeit abgelaufen war. Das stellte gewiss auch für die Vampirin eine beachtliche Zeitspanne dar, aber eine vergängliche. Tara konnte warten – selbst achtzig Jahre, falls Melissa mit einem langen Leben gesegnet sein sollte.

Für Melissa gab es nichts, auf das es sich zu warten lohnte.

Melissa starrte auf die Spatzen, welche sich schimpfend um die letzten Körner stritten. Jemand hatte ein Vogelhäuschen gegenüber ihrer Bank aufgehangen und versorgte dieses regelmäßig mit Futter. Sie konnte nicht anders, als dem Geflatter mit ihrem Blick zu folgen, immerhin waren es die einzigen Bewegungen, die um sie herum stattfanden. Doch wirklich realisierte sie nicht, was sich vor ihren Augen abspielte. Die gefiederten Tiere drangen genauso wenig zu ihr durch, wie der Wind, der ihre Haare zerzauste oder die Kälte, die durch ihren Mantel kroch. Erst wenn ihr Körper eindeutige Signale schickte und sie bereits mit den Zähnen klapperte, würde sie sich wieder ins Haus begeben, um sich im Bett aufzuwärmen. Unterwegs würde sie sich ein Brötchen aus der Küche holen. Mehr brauchte sie nicht, um das schmerzhafte Nagen in ihrem Bauch zu beruhigen. Eine Notwendigkeit, die sie hinunterwürgen musste.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt